Der Metzger bricht das Eis
Adrian Metzger nimmt eines der bemalten Blätter zur Hand, hebt es hoch und meint: »Hat Ihr Sohn sterben müssen, um anderen das Leben zu retten? War er doch an all den Anschlägen schuld, die auf die Projekte Heinrich Thuswalders verübt worden sind, hat er sich so aus der Affäre gezogen?«
Agnes Kalcher kämpft, ihre Mundwinkel haben zu zucken begonnen. Schwer fällt es dem Metzger, überhaupt noch fortzufahren. Dennoch wird er den Eindruck nicht los, dieses Bollwerk an emotionaler Zurückhaltung nur durch schonungslose Geradlinigkeit überwinden zu können. Er dreht sich um und deutet auf das Bild mit den drei lachenden Sonnen und den zwei Mädchen, die Hand in Hand darunter stehen.
»Wie haben Sie das alles nur ertragen, Frau Kalcher: den beiden Mädchen, Ada und Lisl, so einen positiven, hoffnungsvollen Umgang mit dem Schmerz, mit dem Verlust zu vermitteln und gleichzeitig zu verschweigen, dass eine der drei verlorenen Sonnen noch am Leben ist?«
Agnes Kalcher hat zu weinen begonnen, den Kampf aber noch nicht aufgegeben. Seltsam ist dieses Bild: Tränen rinnen ihr über die vom Schmunzeln angehobenen Backen und suchen sich abwärts ihren Weg hinein in die Falte des hochgezogenen, fortwährend zitternden Mundwinkels. Von dort tropfen sie herab und versickern zwischen ihren regungslos auf dem Tisch liegenden Händen auf einem der Wasserfarbenbilder. Es ist keine Handlung, die er überlegt durchführt, es passiert ihm einfach, dem Metzger: Ungebeten legt sich seine linke Hand als Versuch des Trostes auf ihre rechte. Ohne zu zucken, lässt Agnes Kalcher die Berührung zu.
»Frau Kalcher!«, flüstert er. »Sie haben einen Ihrer Enkel verloren, Ihre Schwiegertochter, Ihren Sohn, Ihr Mann wird wegen Mordes gesucht, ich nehme an, Sie haben zusätzlich zu einem greisen Urgroßvater und zwei Enkeln nun auch noch Anna Kaufmann und Bernhard Axpichl zu betreuen, und Sie bewahren doch mit aller Gewalt Ihre Haltung. Wovor haben Sie solche Angst?«
Nun bricht die Mauer. Agnes Kalcher dreht die Hand unter der des Metzgers um, umfasst die seine, langsam sinkt ihr Kopf auf den Tisch, bis er schließlich mit der Stirn auf Willibalds Handrücken liegen bleibt. Zügig suchen sich ihre Tränen den Weg durch die Finger, dann beginnt sie zu sprechen, leise, brüchig: »Glauben Sie, er hat leiden müssen? Ich wünsch mir so, dass wenigstens sein Tod schöner war als sein Leben. Ich wünsch mir’s so sehr.«
»Ich glaub nicht, dass er leiden musste, ich nehme an, er ist eingeschlafen.« Er unterbricht, lässt Agnes Kalcher weinen, beruhigend wirkt es nun, das Ticken der Küchenuhr. Schließlich setzt er fort: »Frau Kalcher, was kann es für eine Bedeutung haben, dass kurz vor Maria Kaufmanns Selbstmord Laurenz Thuswalder in einem silbernen Wagen vor dem Spital wartet und dann genau dieser Wagen neben der Busstation und der Leiche Ihres Sohnes gesichtet wurde?«
Nun zuckt sie, die Hand, ungläubig klingt ihre Stimme: »Laurenz Thuswalder?«
Sie hebt den Kopf, blickt dem Metzger unvermittelt in die Augen: »Ich schätz, ich hab keine Wahl und werd Ihnen vertrauen. Bin ich in guten Händen, bin ich …?«
Dann klopft es.
Ihr Blick wird fest. Blitzschnell wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht, steht auf und geht entschlossen zur Tür.
»Wer ist da?«, hört er, der Willibald, da nimmt er gerade das auf dem Tisch liegende Notizbuch mit der gelben Sonne zur Hand.
»Ich bin’s, Agnes!« Aufgeregt und ernst wirkt die männliche Stimme.
»Ist was passiert?« Agnes Kalcher öffnet die Tür, da blättert Willibald Adrian Metzger gerade das Notizbuch durch und traut seinen Augen nicht.
»Agnes! Der Reini hat beim Pistenpräparieren zwei Leut den Wanderweg in Richtung Bürgljoch hinaufgehen gsehen. Er war sich nicht sicher, aber er meint, es könnt dein Schwiegervater gwesen sein, mit einem Rucksack und mit, mit …« Kurz bricht er ab, als fiele es ihm schwer, das Unvermeidliche auszusprechen: »Agnes, geh mal schnell schauen, ob die Kleine im Bett liegt!«
»Ada«, kraftlos klingt die Stimme Agnes Kalchers. Eilige Schritte sind zu hören, eine Tür wird aufgerissen, dann zerreißt ein schmerzerfüllter Schrei die Stille des Hauses. Willibald Adrian Metzger stockt der Atem. Erfüllt von einer unglaublichen inneren Schwere, erhebt er sich und tritt zur Küchentür hinaus ins Vorzimmer. Völlig überrascht, als würde er ihn durchleuchten wollen, blickt ihm Laurenz Thuswalder entgegen, nickt, dann sieht er an ihm vorbei.
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