Der Metzger holt den Teufel
Beschleunigung vertrüge. Zu Mittag legt sie also den Schrubber beiseite und ihre wohlverdiente Pause ein. Weit weg ist er ja nicht, der Gewölbekeller samt ihrem Willibald. Außerdem schmeckt der hausgemachte Zwetschgenkuchen diesmal wirklich hervorragend. Euphorisch und getragen von liebevollen Gedanken, macht sie sich auf den Weg.
Wenn diese Göttin Sophie Widhalm keine Möbel sucht, warum steht sie dann hier?, fragt sich der Metzger, während sich sein Überraschungsbesuch langsam aus der stehenden Position vorneigt und einen weiteren Schritt näher kommt. Auch ihr Atem duftet angenehm süß.
Eigentlich müsste er nun zurückweichen, der Willibald, nur wo soll er hin, hinter ihm ist die Werkbank. Allein dieser Abstand zum Gesprächspartner verdeutlicht eine Situation, bei der es an und für sich mit dem Sprechen gleich ein Ende hat. Es sind zwei warme, zarte Hände, die die kräftigen des Restaurators sanft umschließen; es ist ein tiefer Blick, der nicht um die Burg den Anschein erweckt, woanders hinsehen zu wollen als in diesefremden Augen; es ist die geputzte Glasscheibe, an der Danjela Djurkovic nun besser vorbeispaziert wäre.
»Willibald, nur du bist der Grund, warum ich hier bin!« Wie eine gehauchte Schicksalsmelodie verhallt der Satz in die beinah atemlose Stille. Ewig wirkt die Pause der Sprachlosigkeit.
Schweiß steht dem Metzger auf der Stirn: »Das … das … das muss ein ganz ein großes Missverständnis sein!«
»Ein ganz ein großes Geschenk ist das. Und ich weiß es erst, seit ich so viel Zeit am Sterbebett meiner Mutter verbracht habe!«
Der Metzger versteht die Welt nicht mehr.
So wie vor der Werkstatt Danjela Djurkovic mit ihrem Zwetschgenkuchen in der Hand hat in der Werkstatt Sophie Widhalm Tränen in den Augen: »Willibald, ich bin deine Schwester!«
Die Zeit steht still, für einen kurzen Moment, dann läuft sie rückwärts. Das kann sie nämlich weitaus besser, als auf einen Sprung in der Zukunft vorbeizuschauen. Sie kann es sogar so gut, dass der eine oder andere aus seiner Flucht in die Vergangenheit gar nicht mehr zurückkehrt. Was dann natürlich nicht nur zeitlich gesehen ein wenig nach hinten losgeht. Ein Gegenwartsverweigerer, der zwangsweise in der Gegenwart, die er verweigert, leben muss, das ist wie ein Gefängnisausbruch von einer Zelle mit Fenster zum Hof in eine Zelle mit Fenster zur Straße. Willibalds Vater erwischte es noch schlechter: Er ist vom Gemäuer der Ehe über Umwege in den Bunker seiner Einsamkeit gewandert. Danach gab es für den vierzehnjährigen Willibald kaum noch Kontakt zu seinem Erzeuger, gab es während der wenigen Begegnungenkeine Innigkeit, gab es später nicht einmal mehr die Begegnungen, gab es nichts zu bekommen und schließlich nichts zu erben. Sein Vater hat sich bis zur Scheidung wie eine flüchtige Bleistiftzeichnung in das Dasein seines Sohnes eingetragen und dann selbst ausradiert.
Er hat seinem Sohn also nichts vermacht und nun doch etwas hinterlassen. Hier steht eine Fremde, die sich als Halbschwester ausgibt, erfüllt von familiärer Wiedervereinigungsrührung, und beim Metzger will und will sich nicht einmal die Sehnsucht nach Erstkontakt, geschweige denn Familienzusammenführung einstellen. Ganz im Gegenteil.
Behutsam löst er seine Hände und tritt einen Schritt zurück. »Wie alt sind Sie?«
»Du, sagen wir doch bitte ›Du‹, Willibald! Dreiunddreißig Jahre bin ich, meinen Vater habe ich nie kennengelernt, aber wir haben denselben! Es ist so ein Geschenk, so ein unfassbares Geschenk.«
Unfassbar ist das richtige Wort. Jetzt muss er sich auf seine Werkbank aufstützen, denn schlecht in Mathematik war er nie, der Metzger. Dass sein Vater bei Worten wie Moral und Verantwortungsgefühl ein Fremdwörterlexikon zur Hand nehmen musste, war ihm bekannt, dass er es dann aber nicht einmal aufgeschlagen hat, erschüttert ihn zutiefst. Aus dieser unangenehmen Rechenaufgabe mit seinem eigenen Alter und der eben genannten Zahl 33 geht die Zahl 12 hervor. Zwölf Jahre war er alt, der Metzger, da hockte sein Vater noch selbstherrlich zu Hause auf dem Wohnzimmersofa und diktierte seiner Familie, wie was zu geschehen habe.
»Meine Mutter war damals als Lehrmädchen in der Stadt. Mehr weiß ich nicht. Sie hat mir immer nur erzählt,ich sei das Kind einer einzigen wunderbaren Frühlingsnacht im April und ihr größtes Geschenk. Weihnachtsgeschenk würd ich da wohl eher sagen, an einem 22. Dezember geboren. Weißt du, sie hat nie
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