Der Metzger kommt ins Paradies: Kriminalroman (German Edition)
seiner vollkommenen Nacktheit und Zerbrechlichkeit, sei es der Himmel auf Erden oder die Hölle, und nichts davon ist wählbar.
Und wenn es die Hölle ist, muss ein Mensch erst greifen lernen, laufen lernen, sprechen lernen, überleben lernen, um eines Tages, vielleicht sogar ohne des Lesens und Schreibens mächtig zu sein, den Versuch unternehmen zu können, dieser Hölle zu entkommen. Kindsein als Gefangenschaft, und diese wird weitergegeben, wie ein Vermächtnis, von Generation zu Generation.
Es ist keine Undankbarkeit, die ihn erfüllt, er liebt seine Mutter, er liebte seinen Vater, der, da war er fünf Jahre alt, vor seinen Augen auf offener Straße erschossen wurde, er liebt seine Geschwister, aber er liebt sein Land nicht, seine Herkunft, sein Leben.
Ein Leben ohne Möglichkeiten, ohne Perspektive, ein Überleben, von Tag zu Tag, inmitten völlig verarmter Verhältnisse, inmitten barbarischer Zeiten. Hier schlachten sich die Menschen gegenseitig ab, und viele davon wissen gar nicht mehr, warum alles begonnen hat, sie wissen nur, dass durch die Hand des einen der andere getötet wurde, und das reicht. Auch ihm wurde bereits als Kind nach dem Tod seines Vaters eine Waffe in die Hände gelegt. Solange dieses Leid sich selbst überlassen bleibt, solange keiner kommt und ohne die Absicht, sich zu bereichern, hilft, den Hass zu lösen, der hier Teil des Lebens geworden ist, als könnte er den immerwährenden Hunger, Durst, die unfassbare Armut stillen, solange die Welt die Augen verschließt, so lange wird das Schlachten kein Ende nehmen.
Auf das eigene Ende zu warten aber war ihm zu wenig, sich zufriedenzugeben mit seinem niemals selbst gewählten Schicksal war ihm zu wenig, in dem, was das Leben ihm zu bieten hatte, all das zu sehen, was Leben für ihn bedeuten soll, war ihm zu wenig. Lieber den Tod und die Hoffnung vor Augen als nur den Tod. Ihm blieb nichts anderes, als es zu versuchen. Sterben kann er überall.
Mit 14 brach er mit zwei seiner Geschwister in Richtung Nordküste auf, darunter seine ältere Schwester. Was seine Mutter an Geld besaß, hatte sie ihnen gegeben. Der Abschied war, als stünden sie vor dem Leichnam seines Vaters, so qualvoll, so unausweichlich, so endgültig. Nie wird er den Schmerz in den Augen seiner Mutter vergessen können. Er würde sie und seine zurückbleibenden jüngeren Geschwister nicht mehr wiedersehen.
Heute ist er 17, und was er seit seiner Flucht zu sehen bekam, hätte er nie für möglich gehalten.
Um den Weg aus der Hölle zu finden, muss man zuerst noch tiefer hinabsteigen.
Nun aber scheint ihm der Himmel sicher. Und er würde alles tun dafür, auch um Youmas willen, alles.
Gspritzte und Prolos
Höchst verwundert starrt er auf die dichtgedrängte Einkaufsstraße, und eine dermaßen dichtgedrängte Einkaufsstraße hat er sein Lebtag noch nicht gesehen. Eines steht für ihn fest: Danjela ist hier, hundertprozentig, im Eldorado des weiblichen Jagdinstinkts.
Er selbst allerdings steht nicht mehr fest, verliert den Boden unter den Füßen, und ob er will oder nicht, sie hat ihn erfasst, die Strömung, die Saugkraft, die Route ohne Ziel. Eingekeilt zwischen Menschen vom Säuglings- bis zum Rentneralter, schiebt es ihn den Boulevard entlang, vorbei an Schuhgeschäften, Bars, Restaurants, Eissalons, Spielhöllen, Spielzeug- und Textilläden, und alles, was er kann, der Willibald, ist schauen. Nur schauen, sich treiben lassen und verwundert sein über das Gegenteil seiner Erwartungen, über die maximal aus den Spielhöllen dringende piepsende, klingelnde und brummende Hektik, über die ansonsten vorherrschende so bunte Gemächlichkeit, über den Frohsinn, die Zufriedenheit in den Gesichtern, über das friktionsfreie Aufeinandertreffen von Masse, das fast buddhistische Tempo, als hätten die Menschen ihre Uhren, ihre Kalender zu Hause gelassen, als wäre diese Einkaufsmeile der Pilgerweg des hier urlaubenden Otto Normalverbrauchers, Bürgertums, Proletariats. Diese Straße ist kein Schaulaufen der Vermögenden, kein Laufsteg protzig zur Schau gestellten Reichtums. Gspritzte gibt es hier nur in den Bars, zumeist als Mischung aus Prosecco, Soda und irgendeinem modischen Zusatz.
Und ja, er würde es zwar nie zugeben, aber in dem fast meditativen Treiben einer wohltuend unaffektierten Mittelschicht fühlt er sich im Augenblick direkt wohl. Lang dauert es nicht, und er hat einen Plastikbecher mit zwei Kugeln in der Hand, eine schwarzbraun, eine giftgrün, Bitterschokolade
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