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Der Meuchelmord

Titel: Der Meuchelmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Evelyn
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seine Tage und Nächte stets in einem Haufen größerer und kleinerer Kinder, Verwandter, Vater und Mutter. Der Tod seines Vaters schaffte auch nicht mehr Platz. Er war nie allein, hatte nie Ruhe. Das Leben war ein einziger Krach, der zwar lauter und leiser wurde, aber niemals ganz aufhörte, auch nachts nicht: Irgend jemand schnarchte, das Baby schrie, die Mutter wachte auf, legte es an die Brust und sang ihm etwas vor. Die billigen Bettgestelle, in denen jeweils zwei bis drei Kinder schliefen, knackten und quietschten. Der Wasserhahn in der Küche tropfte ewig, und zwischen vier und sechs Uhr morgens begann die Leitung zu rappeln. In der Wohnung darüber und darunter lebten ebenfalls große Familien. Die Leute ein Stockwerk tiefer waren Sizilianer. Sie hatten dauernd Streit, und die Frau brüllte und betete, wenn ihr Mann sie schlug.
    Diese Kindheit war ein einziger Alptraum. Der Familie fehlte es an allem. Sie hungerten oft, bekamen nie neue Sachen zum Anziehen, und wenn sich die Eltern hinter den Vorhang in der Ecke zurückzogen, um beieinander Trost zu fingen, lagen die Kinder wach und lauschten. Es war jedenfalls der fröhlichste Ort, den Martino kennengelernt hatte, und in den achtundzwanzig Jahren seit dem Weltkrieg hatte er viele verschiedene Orte kennengelernt, angefangen von den Schützengräben auf Iwodjima bis zum Palast des Erzbischofs in New York. Die Beschreibung seines Elternhauses war einer seiner gekonntesten Auftritte im Fernsehen gewesen. Sie brachte ihm hunderttausend Briefe ein, führte zu einem vollständigen Zusammenbruch der Telefonverbindungen im Studio und wurde in ganz Amerika gesendet.
    Er hatte sie für die Zuschauer in ganz Amerika wieder zum Leben erweckt: seine Brüder, seine Schwestern – den einen Bruder, der in eine Erziehungsanstalt kam, die beiden anderen, die zum Militär gingen und fielen, seine Schwestern, die heirateten und ein eigenes Leben in derselben Umgebung begannen wie ihre Eltern. Die Statue des Erlösers hatte in der Küche einen Ehrenplatz, die Lampe davor ging niemals aus, auch wenn es noch so schwerfiel, das Öl dafür zu kaufen. Regazzi erzählte diese Geschichte auf eine Art, die manchem Profi Tränen des Neides entlockte. Er beschrieb mit schlichten Worten schlichte Menschen. Er gab ihrer Armut, ihrem Elend Würde, er erzählte mit verhaltenem Stolz von seiner Mutter, voll Mitleid von seinem Vater. Er war ein armer Mann, der zum Kirchenfürst aufgestiegen war. Aber niemand sollte sich durch seinen Titel täuschen lassen: Er war immer noch ein armer Mann. Genauso arm wie jener Zimmermann, der seinen Freunden nur einen nahtlosen Rock hinterlassen konnte, als er starb.
    Und dann wurde aus der warmherzigen Erzählung eine leidenschaftliche Attacke gegen die Armut, gegen die Unterdrückung der Besitzlosen, die Bedingungen, unter denen sie leben mußten. Vom Bildschirm donnerte der Sozialismus, harte Worte fielen aus dem Mund eines katholischen Kardinals. Nur deshalb hatte er von seiner Familie gesprochen, von ihren Sorgen und Nöten. Er wollte das Gewissen des Volkes wachrütteln. Das ging nicht nur die Bewohner von Klein-Italien etwas an, sondern die Menschen in ganz Amerika.
    Was die Zyniker zum Weinen brachte, war die Erkenntnis, daß er es tatsächlich ernst meinte. Wer ihm so nahe stand wie sein Sekretär, Monsignore Jameson, wußte, daß Regazzi vor seiner berühmten Fernsehrede eine Stunde im Gebet verbracht hatte. Er wußte, wie gründlich er sich auf jeden Auftritt in der Öffentlichkeit vorbereitete, wie er an jeder Predigt feilte, wie er gleich einem Filmstar auf seine Schokoladenseite, sein gewinnendstes Lächeln, achtete – nur aus einem einzigen Grund: um die Menschheit im Namen Gottes zu bessern. Regazzi hatte viele Kritiker, die meisten von ihnen in den Reihen der Kirche selbst, wo man seine Sucht nach Publicity und die wortgewaltigen Predigten ablehnte, weil sie im krassen Gegensatz zur neutralen Würde seines Vorgängers standen. Regazzi war Anfang Fünfzig. Er hatte sich als junger Kaplan bei der Marine-Infanterie bewährt und danach als Theologe und Soziologe eine steile Karriere gemacht. Als er Erzbischof von New York wurde, geschah es im Rahmen der Revolutionierung innerhalb der katholischen Kirche. Die Ernennung dieses energischen Italieners war der Beweis dafür, daß die Reform trotz aller konservativen Elemente in der Hierarchie den Segen des Vatikans hatte. Monsignore Jameson war zehn Jahre älter als der Kardinal. Er liebte das

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