Der Meuchelmord
mich selbst betrifft. Auch wenn du glaubst, daß man mir so etwas ansieht. Ich war vor langer Zeit einmal verliebt, und ich glaubte damals, daß auch er mich liebte. Aber ich kam schnell dahinter, daß das nicht stimmte. Er kam, sah und siegte. Und dann ging er wieder. Ich glaube, ich habe etwas von einer Heirat erwähnt oder irgendeinen albernen Witz gemacht. Er hat in deinem Zimmer gewohnt«, gab sie zu. »Ich habe es für ihn herrichten lassen. Aber das ist jetzt vier Jahre her. Seitdem hat niemand mehr dort geschlafen.«
»Du bist mir keine Erklärung schuldig«, sagte Keller. »Das geht mich nichts an. Übrigens bist du eine vorzügliche Köchin. Ich wußte gar nicht, daß reiche Frauen auch kochen können.«
»Vielleicht können sie es in Europa nicht, aber in Amerika werden wir sehr praktisch erzogen. Hier gibt es den Fimmel mit den Dienstboten nicht, den ich anderswo immer wieder finde. Ich kann kochen, nähen, jedes Auto fahren und Kinder versorgen. Ich habe nur deshalb keine Arbeit, weil ich … nun, weil ich es nicht nötig habe. Nach dem Tod meiner Mutter wollte ich nicht angebunden sein. Was möchtest du zu Mittag essen? Wenn es dir lieber ist, können wir auch ausgehen. Du kennst ja New York noch nicht! Wir könnten eine richtige Rundfahrt machen: Central Park, Metropolitan Museum, Freiheitsstatue. Wäre das nichts?«
»Wir können nicht weg«, erwiderte er. »Es könnte jemand anrufen. Aber du mußt nicht hierbleiben. Du brauchst dich nicht den ganzen Tag einzusperren.«
»Schade«, sagte Elizabeth, »es wäre so schön gewesen. Ich liebe diese Stadt, und ich hätte sie dir so gern gezeigt.«
»Ich wäre wirklich gern mitgefahren«, sagte Keller. Dabei hatte er gar keine Lust dazu. Parks und Museen waren nichts für ihn.
Sie sah gekränkt und sehr jung aus, wie ein Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hat. Sie war wirklich noch sehr unreif. Reich und gebildet, mit einer Kenntnis von der Welt, wie sie keine seiner bisherigen Bekannten aufzuweisen hatte; aber verglichen mit ihnen war dieses amerikanische Mädchen naiv, ein Mensch, der zwar durch das Fenster des Lebens blickt, es aber nie geöffnet hatte. Wieder mußte er an Souha denken, an ihr schmales, hungriges Gesicht und an ihre riesigen Augen, die schon von Dingen wußten, die dieses Mädchen hier noch nicht einmal ahnte: von Schmerz, Angst und Entbehrung. In Souha hatte er immer das Kind gesehen, selbst wenn sie miteinander schliefen. Am Tag zuvor hatte er Elizabeth Cameron wie eine Frau behandelt, und sie war zusammengebrochen. Sie hatte bisher noch nichts erlebt als einen Liebhaber, der sie nicht heiraten wollte. Er mußte auch als Liebhaber nicht viel getaugt haben, wenn er sie so unschuldig, so unerfahren gelassen hatte.
»Ich stelle immer wieder Fragen«, sagte sie plötzlich. »Eins möchte ich noch wissen: Bist du verheiratet? Oder hast du ein Mädchen?«
»Ich habe ein Mädchen in Beirut«, sagte Keller. Er drückte die Zigarette aus und lehnte sich zurück. Er wollte mit niemandem über Souha sprechen. Er konnte sich vorstellen, was Elizabeth Cameron von einem Mädchen aus den arabischen Flüchtlingslagern halten würde. Deshalb starrte er ihr ganz absichtlich in den Ausschnitt ihres Morgenmantels. Er bestand aus einem weichen grünen Stoff und war mit vielen samtbezogenen Knöpfen besetzt. Er wollte mit Elizabeth nicht über das arabische Mädchen sprechen, mit dem er in Beirut zusammen lebte, vor allen Dingen nicht, wenn sich ihre Brüste unter der Reihe kleiner Knöpfe abzeichneten.
»Du solltest dich lieber anziehen«, sagte er.
»Gut.« Elizabeth stand auf. Als sie seinen Blick fühlte, hob sie beinahe abwehrend die Hand. »Es geht mich ja nichts an. Ich gehe einkaufen und besorge etwas zu essen. Fühl dich ganz wie zu Hause.«
Martino Antonio Regazzi, Kardinal-Erzbischof in New York, stammte aus dem Unteren Manhattan, wo die italienischen Einwanderer so zahlreich sind, daß das Viertel auch Klein-Italien genannt wird. Seine Eltern waren für die Verhältnisse der Einwanderer arme Leute. Sein Vater arbeitete in einer Schuhfabrik, die während der Depression schließen mußte. Dann bezog er drei Jahre lang Sozialbeihilfe und verdiente sich ein paar Dollar dazu, indem er anderen Leuten Taxis herbeirief, die Straße kehrte und Schnee fegte. Schnee war jedesmal ein Segen des Himmels, weil Schnee Geld bedeutete. Die Familie Regazzi lebte mit zehn Kindern in zwei Räumen. Bis zum Eintritt in das Seminar verbrachte Martino
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