Der Meuchelmord
und er war einfach nicht fähig, sich auf die Reisebeschreibung zu konzentrieren, die er gerade las. Reisen langweilte ihn ohnehin. Selbst für Freemont war es jetzt zu spät, nach dem Diener zu läuten. Er stand auf und ging hinunter, weil er einen Schlummertrunk brauchte. Unten in der Bibliothek brannten alle Lichter. Dallas Jay saß auf dem Fußboden und hatte ein Glas Wodka in der Hand. Sie weinte leise vor sich hin und ließ sich vollaufen. Beinahe hätte er sich wieder abgewandt, denn er haßte alle Szenen. Für diese Frau hatte er nichts als Verachtung übrig – Verachtung für ihre Unterwürfigkeit und ihren völligen Mangel an Intelligenz, der schon lange nicht mehr durch Schönheit ausgeglichen wurde. Dumme Blondinen sollten nie älter als fünfundzwanzig sein, und für Brünette war die Sicherheitsspanne noch geringer. Fast wäre er wieder davongeschlichen, aber dann überlegte er es sich anders. Huntley hatte sie offenbar hinausgeworfen. King hatte genau gehört, wie sie vorhin zu ihm gegangen war. Er betrat die Bibliothek und tat überrascht.
»Dallas! Was ist denn los?« Sie hatte schon ziemlich geladen. Das lag zum Teil an dem achtzigprozentigen Wodka, zum Teil an ihrem seelischen Aufruhr.
»Alles ging so gut«, heulte sie. »Er war richtig in Fahrt und hat so nette Dinge zu mir gesagt, und dann – dann – bums! Da kommt dieses Luder, klopft an die Tür und macht uns alles kaputt!« Sie unterbrach ihr wildes Schluchzen nur, um noch einen Schluck zu trinken.
King hob sie hoch und führte sie zu einer Couch. Er gab ihr eine Zigarette, schenkte ihr noch einmal Wodka ein und setzte sich neben sie. Sie war einem hysterischen Zusammenbruch nahe und viel betrunkener, als er vorhin geglaubt hatte. »Wer ist gekommen?« fragte er. »Wovon redest du?«
Sie wandte ihm den Kopf mit den geröteten Augen und dem verlaufenen Maskara zu. Sie wirkte ledern und abgenutzt wie ein Ledersessel, in dem schon zu viele Leute gesessen haben.
»Diese gottverdammte Nichte«, sagte sie mit der übertrieben artikulierten Aussprache aller Betrunkenen. »Miß Elizabeth Cameron höchstpersönlich. Sie mußte unbedingt mit Huntley reden. Ausgerechnet heute nacht. Weißt du was, Eddi, heute nacht hätten wir es geschafft, wir waren soweit. Alles war klar, da kam sie hereingeplatzt.« Sie neigte den Kopf vor, und die Tränen tropften auf den Boden. »Er hat seit Monaten nicht mehr nach mir geläutet. Alles lief prima. Und dann kommt sie und klopft. Dieses kleine Miststück, dieses verdammte kleine Miststück!«
King hatte sie noch nie fluchen hören. Bei Frauen fand er das widerwärtig. Aber sie ging ihn ja nichts an. Es war ihm gleichgültig, was sie sagte. Er ließ sie weinen, nur als sie sich an ihn lehnen wollte, zuckte er zurück. Elizabeth war also zu ihrem Onkel gegangen, nachdem sie erklärt hatte, sie sei müde und wolle schlafen gehen. Sie hatte bis Mitternacht gewartet und war dann, als sie annahm, daß alle anderen schon schliefen, zu Huntleys Zimmer geschlichen. Das konnte nur eines bedeuten: Sie glaubte ihm nicht, was er ihr über Keller erzählt hatte. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen, ihrem Onkel nie etwas über die wahren Hintergründe der Reise nach Beirut zu erzählen. King sah herunter auf die weinende Frau, die immer noch leise vor sich hin fluchte. Was für ein Glück, daß sie gerade bei Huntley war. Was für ein Glück, daß er nicht schlafen konnte und noch einmal heruntergekommen war, um sie zu finden. Das war sehr viel Glück im Unglück, in einer Situation, die verheerende Auswirkungen haben konnte. Vielleicht hatten sich Onkel und Nichte verbündet. Wenn Elizabeth dahintergekommen war, was sie planten, würde sie es nie widerspruchslos geschehen lassen. Er kannte diese Frauen: Ein Mord kam für sie nicht in Betracht, gleichgültig wer auch die Zielscheibe sein mochte. Und wenn sie Huntley erzählte, welche Rolle sie dabei gespielt hatte, dann war es für Eddi King besser, möglichst schnell aus Freemont zu verschwinden.
»Komm jetzt«, sagte er, »komm, du kannst hier nicht bleiben. Das wäre Huntley bestimmt nicht recht. Ich helf dir ins Bett, Dallas. Morgen ist auch noch ein Tag. Komm, mach dir jetzt keine Sorgen und steh auf.«
Dallas hatte bestimmt einige Zeit gebraucht, um diesen Zustand zu erreichen. Das bedeutete, daß die beiden sich ausführlich unterhalten hatten. Wieviel mochte jeder vom anderen erfahren haben? Er wußte es nicht, aber es war sicherlich genug, um alles zu
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