Der mieseste aller Krieger - Roman
Der Mord im Chanchoquín blieb damit vorläufig ungesühnt. Denn die Lorenzona hatte einen Unterschlupf im Olivenhain des Huasco-Tals, und noch einen in den steilen, steinigen Bergen und einen weiteren hinter dem Friedhof, doch der wichtigste war eine Höhle an der Stelle, wo sich jetzt die Ortschaft Baquedano befindet. Dort entdeckte López-Cuervo II ein mit Pech und Gestrüpp verdecktes Loch. Er drang in den eineinhalbMeter hohen Gang vor, der sich dahinter verbarg und bald immer breiter wurde. Es hieß, diese Höhle sei auf natürliche Weise entstanden, andere behaupteten hingegen, sie sei einst von Goldsuchern ausgehoben worden, doch der Sohn des Satans fand nur einen kleinen Petroleumherd vor und eine Truhe mit Stofflappen und Schaffellen, die das Weib als Bett benutzte. Anschließend durchkämmten López-Cuervo II und seine Männer die Olivenhaine in der Nähe von Huasco und starteten dort eine minutiöse Untersuchung, doch alle Mühe war vergebens.
»Die Situation ist untragbar!«, schimpfte López-Cuervo II.
Die Leute gaben an, die Lorenzona sei in Paitanás geblieben, als Bettler oder als Mann verkleidet, um keinen Verdacht zu erregen, aber López-Cuervo II wusste, dass das unsinnig war, denn das Dorf war nicht groß genug, er hätte Wind davon bekommen. Er verstand nicht, wie dieses Weib, das wuchtig war wie ein Walfisch, unbemerkt bleiben konnte. Obwohl ihr Aussehen und ihr Ruf die Menschen in Angst und Schrecken versetzten, kam nie heraus, dass sie irgendein Verbrechen verübt hätte. Irgendwie schaffte sie es immer, dass die Krieger, die Strolche mit den Sandalen oder andere Fremde falsche Auskünfte über ihren Verbleib erteilten: Suchte man sie an diesem oder jenem Ort, hielt sie sich immer gerade ganz woanders auf.
Iquique, 1953
»Und warum hast du ihr nicht einen Tritt in den Arsch versetzt, Tita?« Sie zuckte mit den Schultern und gab mir zu verstehen, dass die Direktorin sie noch nie so behandelt habe. Flor erklärte mir, die Tita hege gegenüber der Frau großen Respekt, wenn nicht gar Angst und so weiter. Deine Mutter war sehr temperamentvoll, Benito, bisweilen überforderte mich ihre überbordende Energie. Und nun das: Als sie sich mit der Direktorin auseinandersetzen sollte, hatte es der kleinen Teufelin plötzlich die Sprache verschlagen, und sie flog von der Schule.
Flor hatte sich schon länger mit dem Gedanken getragen, Paitanás zu verlassen und die Tita auf eine Schule in Iquique zu schicken. Nur die Hunde hielten sie zurück. Wenn sie auch von unserer Schotterstraße schwärmte, die sich in der endlosen Wüste verlor, sich je nach Tageszeit und Einfall des Sonnen- oder Mondlichts orange oder weiß färbte und morgens in sanfte Blautöne getaucht war, war Flor es doch leid, in einem Dorf zu leben, das sich des Nachts in ein Schlachtfeld der größten Maulhelden verwandelte, in dem an manchen Tagen nicht einmal mehr das Gesetz des Urwalds galt. Die Liebe deiner Großmutter zu unserem Ort endete spätestens, wenn die Flaschenbis auf den letzten Tropfen geleert waren und ich die Kerle aus dem Arche rausbefördern musste, damit sie sich einander nicht unter meinem Dach den Bauch aufschlitzten.
Ich wollte nicht, dass die Tita eine Kindheit erlebte wie meine, also stimmte ich zu, dass deine Mutter im Alter von sechs Jahren auf das Iquique English College kam. Ihre Lehrerinnen waren hingerissen von ihrer »fast britischen Schönheit«. Jedes Mal wenn sie sich über Titas Gesichtszüge wunderten, erklärte Flor, ihr Vater – ihr Vater! – habe englisches Blut. Gleich nach einem Monat mussten sie die Tita in die zweite Klasse versetzen. Es gehört sich zwar nicht, wenn ich das sage, aber die Kleine wusste schon alles, was man ihr beibringen wollte, denn meine Frau, die ihr immer alle Zeit der Welt widmete, hatte mit ihr diese Methode gepaukt, die sie das »hispanoamerikanische Silbensystem« nennen und von der die Lehrer ständig redeten, um die Chilenen zu alphabetisieren. Daher war ich ja auch so überrascht, als man die Tita der Schule verwies.
Ich weiß nicht, warum ich glaubte, die Lehrerin habe von ihrer wahren Herkunft Wind bekommen. Jedenfalls nahm ich den nächsten Zug von Paitanás nach Iquique, was fast eine Tagesreise bedeutete. Ich hatte mich für diese Fahrt ordentlich mit Papier, Stiften und anderen Utensilien eingedeckt. Auch ein paar Hunde für meine Frau hatte ich aufgetrieben und mitgenommen. Und wie ich so eingehüllt in den Geruch nach Radiergummi und Papier war,
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