Der Ministerpräsident - ein Roman
Haar wäre er gestürzt. Walter munterte ihn auf: Nur weiter … Wir fuhren nun in eine Tiefgarage. März rief ihm nach: Was sollen wir in einer Tiefgarage? Dass das ein ideales Übungsterrain sei, so Walter. Und wir fuhren von Rampe zu Rampe, von Zwischendeck zu Zwischendeck, von unten bis ganz nach oben, auf das Dach der Garage. Er rief März zu: Denken Sie an den Sonderparteitag. Denken Sie an die Auffahrten und an die Rampe. Und er empfahl März, entspannt zu bleiben. Eine Steigung zu akzeptieren. Ein Anstieg sei eine Frage von Balance und Rhythmus, ein Rhythmus von Pedalumdrehungen und Atem. Die Kunst der richtigen Gangwahl, das Herstellen von Leichtigkeit bei aller Steilheit. März war außer sich. Walter fuhr tänzelnd um ihn herum. März fuhr in Schlangenlinien. Walter sprach von Rhythmus. Alles eine Frage von Rhythmus. Und März rief: Dass er nun absteigen werde, und Walter antwortete: Das Schöne am Radfahren sei, dass es immer weitergehe.
März ließ sich in der Klinik von Frau Wolkenbauer behandeln: sein schmerzendes Gesäß, seine Kreislaufschwäche und einen noch nie da gewesenen Muskelkater. Er wurde in ein Krankenzimmer gebracht, in dem er ruhen sollte. Später ließ er uns einen Zettel zukommen mit handgeschriebenen Sätzen für die Sonderparteitagsrede, Fahrradsätze, die wir noch in die Rede einbauen sollten, Sätze wie: Ein Anstieg ist eine Frage von Balance und Rhythmus, ein Rhythmus von Pedalumdrehungen und Atem. Die Kunst der richtigen Gangwahl, das Herstellen von Leichtigkeit bei aller Steilheit. Eine Form von Meditation. Das sollte ich sprechen.
Und es kamen weitere Sätze. Sätze von Frau Caillieux, Sätze aus der Abteilung R EDEN des Staatsministeriums. Sätze wie: Bevor nicht der CO 2 -Ausstoß in unserem Land um 20 Prozent gemindert ist. Erst dann werde ich wieder von meinem Rad steigen. Erst dann … Derartige Sätze sprach ich, und März war zufrieden damit. Und Frau Caillieux sagte: Dass die Begründungsnotwendigkeiten sich ab jetzt ins Gegenteil verkehren würden. Nicht mehr die Frage: Warum fährt dieser Ministerpräsident mit dem Fahrrad? Sondern umgekehrt: Warum hält er sein Versprechen nicht? Warum ist er plötzlich ohne Fahrrad? Also sei er ab jetzt nur noch radfahrend denkbar, eine endlose Radfahrt im Namen einer Zahl: 20 Prozent CO 2 .
Was CO 2 ist und was CO 2 bedeutet? Ich wusste es nicht. Ob ich das schon vor meinem Unfall nicht gewusst hatte oder erst nach meinem Unfall nicht wusste – ich wusste es nicht. Jedenfalls war CO 2 eine wichtige Sache. Je weniger davon, desto besser. Genau wie Arbeitslosigkeit. Je weniger, umso besser. März sagte: Wir haben nun ein Wahlziel. Nicht nur, dass ich Ministerpräsident bleiben sollte, sondern auch noch 20 Prozent weniger CO 2 . Das ist ein Grund, das ist ein Ziel, das ist eine Vision.
Ich fragte März, was das bedeute? 20 Prozent weniger CO 2 ? Er konnte es mir nicht genau sagen. Und auch Hannah konnte es mir nicht wirklich sagen. Sie antwortete: 20 Prozent, das sei eine Zahl. Eine Zahl für eine Rede. Seit langer Zeit sei das eine Rede, die etwas sage. Wir brauchten auch keine weiteren Partikeln mehr. Keine Denns, keine Überhaupts, keine Dochs … Sie seien kaum mehr nötig. Sie brauchte nur noch Wortfolgen wie: Für das Land … Für unser Land … Für dieses, unser aller Land … Für uns alle … Für unsere Kinder … Und Kindeskinder …
Später fragte sie mich, mit einer überraschenden Plötzlichkeit, welche Bücher ich gerne lesen würde?
Welche Bücher ich gerne lese?
Ja.
Ich wusste es nicht.
Wie man so etwas nicht wissen könne.
Vielleicht durch den Unfall, gab ich zur Antwort.
Das glaubte sie nicht. Ich hätte das vor dem Unfall wahrscheinlich genauso wenig oder noch weniger gewusst als nach dem Unfall. Und sie wiederholte ihre Frage: Welche Bücher ich zurzeit lesen würde?
Akten.
Ob das alles sei?
Nein.
Was also sonst?
Einen Bildband.
Einen Bildband?
Sowie ein Buch über Landkreise und Kommunalpolitik. März hatte mir diese Bücher gegeben. Um mich auf dem Laufenden zu halten.
Sonst würde ich also nichts lesen?
Doch.
Was?
Ich hatte kaum Zeit zu lesen.
Ob ich mich für Literatur interessierte?
Ja, natürlich.
Für welche Autoren?
Für zahlreiche Autoren.
Welche?
Ich überlegte.
Wer mein Lieblingsautor sei?
Es seien einige Autoren.
Welche?
Zum Beispiel …
Ja?
Schiller.
Schiller?
Ja, Schiller.
Welche Autoren ich sonst noch schätzen würde?
Ich überlegte.
Sie wartete …
Da ist
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