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Der Ministerpräsident - ein Roman

Der Ministerpräsident - ein Roman

Titel: Der Ministerpräsident - ein Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klöpfer , Meyer GmbH , Co.KG
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Urspring, das sagte, erlebte ich bebende Zustimmung. Und ich wollte nun hören, was damit genau gesagt war, als ich gesagt hatte: Ich sage nur Pisa. Doch ich hörte nichts. Alles schien mit Pisa bereits gesagt. Als ob unglaubliche Dinge mit Pisa verbunden wären. Ich sage nur Pisa. Vielleicht weil ein Krieg dort ausgebrochen war. Oder eine Hungersnot oder Krankheit. Und ich bewegte meine Lippen zu Pisa, wo ich als Kind einmal mit meinen Eltern gewesen war. Und meine Lippen sagten nicht nur Pisa, sondern auch noch Mailand und Rom. Ich sage nur Pisa. Ich sage nur Mailand. Ich sage nur Rom. Doch März, der in der ersten Reihe saß, fing an zu fuchteln. Nein! Keine weiteren Städte! Die Rede war auch schon bei einem anderen Thema. Urspring sagte: Er wäre nicht der, der er heute sei, wenn nicht … die Schule, die Eltern, das Studium, all die Jahre, all die Mühen … und vieles mehr … Und ich dachte an Frau Wolkenbauer, die gesagt hatte: Er weiß ja nicht einmal, wer er eigentlich ist. Doch es gab Applaus. Eindringlichen Applaus. Und Urspring sprach von Erfolgen, die meine Lippen nun bewegten. Erfolge und Leistungen: der Regierung, der Partei, des ganzen Landes … Und ich wollte März fragen, ob das dasselbe sei: Leistungen und Erfolg. Ob man Erfolg auch haben kann, ohne etwas zu leisten. Oder man etwas leisten kann, ohne damit Erfolg zu haben. Und was mit den Menschen geschieht, die etwas leisten, aber keinen Erfolg damit haben … Doch März sagte später, das seien Haarspaltereien. Und Urspring sprach nun mit lauter Stimme Zahlen, immer weitere Zahlen, die er wie Hiebe aussprach. Zweihunderttausend. Zweihunderttausend neue Plätze Arbeit. In den nächsten drei Jahren. Zweihunderttausend. Er verspreche das. Mit allem Nachdruck. Zweihunderttausend Plätze Arbeit. Und ich fragte mich, ob man nicht besser sagen könnte: Zweihunderttausend Plätze weniger Arbeit, und dafür Plätze für andere Dinge, doch Urspring sprach bereits von neuen Themen, zum Beispiel von CO 2 . Was mich langweilte. Obgleich die Frau in der ersten Reihe nun heftig nickte. Weil CO 2 ihr sehr wichtig schien. Eine ungeheuerliche Sache. Von größter Tragweite. Weshalb sie so aufgebracht nickte. Ihre Lippen bewegten sich zu meinen Lippen. CO 2 . So als wollten ihre Lippen küssen. Und ich hätte ihre Lippen gerne geküsst, liebend gerne, auch ohne CO 2 , weil ihre Lippen sich so innig zu meinen Lippen bewegten. CO 2 . Wir zwei und CO 2 . Und Urspring sagte nun: Er werde nicht eher ruhen … Er werde nicht eher ruhen … bis es 20 Prozent weniger CO 2 gebe. Erst dann werde er wieder ruhig sein. Erst dann werde er von seinem Fahrrad steigen – wenn diese Zahl erreicht sei. Und ich fragte mich: Wie das gehen soll? Dass ich erst dann wieder von meinem Fahrrad steige. Dass ich bereits jetzt, während ich das sagte, ohne Fahrrad stand. Ob man das nicht sieht? Dass ich bei zahlreichen anderen Gelegenheiten immer wieder von meinem Fahrrad steige. Wenn ich zum Beispiel ins Bett oder essen oder auf die Toilette gehe. Doch März sagte, das seien Wortklaubereien. Es gehe um das Große und Ganze. Und Urspring pflichtete ihm bei. Er sprach von unser aller Zukunft, von unser aller Verantwortung, von unser aller Aufgabe und unser aller Gewissen … Und meine Hände, sie gingen mit diesen Worten nach oben, doch Urspring war kaum mehr zu hören, denn es begann nun ein von allen Seiten aufstehender Applaus, der nicht mehr aufhörte, der rhythmisch weiterklatschte und immer weiterklatschte … Und März gab mir Zeichen, dass dies der Schlussapplaus sei. Schluss. Aus. Also bewegte ich meine Lippen nicht mehr. Und ich winkte. Und nickte. Und beruhigte. Und schaute mich um. Nach Menschen, die ich vielleicht erkennen würde. Doch ich erkannte niemanden. Ich erkannte nur Walter, der auf die Bühne kam und mein Fahrrad brachte: Ihr Fahrrad. Er sagte das fast tröstend. Als hätte ich nur noch dieses Fahrrad. Und März machte Zeichen aufzusteigen, demnächst von der Bühne zu fahren. Solange der Applaus noch vorhalte. Nichts sei schlimmer als eine ratlose Stille nach einem solchen Applaus. Also runter von der Bühne. Ich saß bereits auf dem Fahrrad. Winkte. Mit einem Blumenstrauß in der Hand, den man mir überreicht hatte. Mit zwei Küssen. Und ich warf den Blumenstrauß ins Publikum, was März missfiel. Und ich suchte nach den Lippen der Frau in der ersten Reihe. Sie saß immer noch in der ersten Reihe. Sie klatschte immer noch. Und ihre Lippen glänzten mehr denn je.

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