Der Ministerpräsident - ein Roman
Mössingen wusste etwas von einem Wahlkampftermin. Jedenfalls nicht in Mössingen. Und auch nichts von einem Wahlkampfauftritt in der Nähe von Mössingen. Niemand wusste etwas davon. Später sagte sie: Wir hätten einfach zur Polizei gehen sollen. Wir hätten sagen sollen: Hier sind wir. Bitte rufen Sie März an. Bitte bringen Sie uns zu ihm.
Wir kamen in ein Dorf namens Talheim. Hannah mochte diesen Ort. Vielleicht weil das der erste Ort ohne ein Ingen war. Er lag am Ende eines Tals, wie ausgesetzt oder verstoßen. Talheim. Hannah wollte eine Pause machen, etwas zu essen und zu trinken kaufen, bevor sie mit dem Staatsministerium telefonieren würde. Sie hatte kein Geld, was sie verärgerte, und auch ich hatte kein Geld, was sie ebenfalls verärgerte. Warum ich kein Geld hätte? Sie hatte das letzte Geld im Schwimmbad ausgegeben, und ich durchsuchte meine Taschen und musste gestehen, dass auch ich kein Geld hatte. Nicht einmal Andeutungen von Geld, was Hannah wütend machte. Wie das gehe, fragte sie, dass ein Ministerpräsident kein Geld habe? Und ich erklärte ihr: Dass März das alles für mich erledige. Dass er für mich bezahle. Oder mir Geld gebe, wenn ich welches brauchte, was nur selten vorkomme, da ein Ministerpräsident eigentlich so gut wie nie Geld brauche, da er immerzu eingeladen werde.
Hannah nannte das Taschengeld: Er ist Ministerpräsident, und März gibt ihm Taschengeld. Wie ein kleiner Junge bekommt unser Ministerpräsident Taschengeld. Wie viel Taschengeld März mir in der Woche gebe? 50 Euro? 100 Euro? Und was ich mit dem Taschengeld alles kaufen dürfe? Und ob März mir das Taschengeld gelegentlich streiche? Wenn ich eine schlechte Rede hielte oder die Umfragewerte im Fallen seien …
Sie war außer sich.
Ich zeigte ihr, wie zum Beweis, eine Scheckkarte, die ich in meiner Hosentasche gefunden hatte. Das sei meine Scheckkarte, sagte ich. Nichts anderes als meine eigene Scheckkarte. März habe keine Ahnung von dieser Scheckkarte. Ich wusste nur die PIN-Nummer nicht – jedenfalls nicht mit absoluter Sicherheit. Doch überlegte ich mir bereits mögliche Nummern. Nummern, die ich in der Klinik gesagt und wieder verworfen oder in mein Notizheft geschrieben hatte. Manche Nummer hatte ich auch nur gesagt, um die Ärzte damit zu beeindrucken. Niemand wäre auf die Idee gekommen, diese Nummern ernsthaft zu überprüfen.
Hannah stand neben mir an einem Geldautomaten und meinte: Ich solle meinen Geburtstag probieren. Oder ich solle die Geburtstage meiner Eltern oder meiner Frau probieren. Ich hatte keine Ahnung von diesen Geburtstagen. Nicht einmal eine unwirkliche Ahnung. Hannah meinte, man könne das im Internet herausfinden, den Geburtstag meiner Frau und andere Geburtstage.
Man schickte uns zu einer Tankstelle. Dort befinde sich ein Internetzugang, um die Geburtstage meiner Familie irgendwie herauszufinden. Die Tankstelle lag bereits auf der Höhe der Schwäbischen Alb. Hannah sagte: Ich solle vorausfahren und oben auf sie warten. Doch sie war es, die vorausfuhr und oben auf mich wartete. Sie saß unter einem Baum. Sie sagte: Wie still es hier oben sei. Als ob man uns gar nicht vermissen würde. Und wir sahen andere Radfahrer, die an uns vorbeifuhren und uns zuwinkten. Als wäre unsere Anwesenheit hier oben ganz normal.
Dass das einen Euro pro Stunde koste, das Internet, sagte der Tankwart. Dass wir zurzeit kein Geld hätten, erklärte Hannah. Dass wir aber später aus einem Geldautomaten Geld holen würden. Sobald wir die richtige PIN-Nummer finden würden, die wir im Internet zu finden hofften.
Der Tankwart verlangte einen Euro.
Ich erklärte ihm: Dass wir mitten in einem Wahlkampf sind … Dass wir dringend mit März telefonieren müssen … Dass März wahrscheinlich außer sich vor Sorge ist … Dass man überall nach uns sucht … Der Tankwart sagte: Er interessiere sich nicht für Politik. Und ich antwortete ihm, dass auch ich mich nicht wirklich für Politik interessiere – und der Tankwart überließ uns achselzuckend das Internet.
Hannah suchte nach meinem Geburtstag. Und sie suchte auch nach den Geburtstagen meiner Frau und den meiner Eltern. Und nach anderen Zahlen und Nummern aus meinem Leben: Erstmaliger Amtsantritt. Prozente bei Wahlsiegen. Jahr der Promotion. Wirtschaftswachstum im letzten Jahr. Sie suchte und suchte, schrieb Zahlen und Nummern auf ein Stück Papier, dann fuhren wir weiter, von Dorf zu Dorf, auf der Suche nach einem Geldautomaten, den es nirgendwo gab. Wir
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