Der Minnesaenger
sie unerbittlich geworden - gegen sich selbst und gegen alle anderen.«
Für einen flüchtigen Moment ahnte Judith, dass möglicherweise ein Zusammenhang zwischen der Krankheit und der Geisteshaltung ihrer Mutter bestand, dann verflüchtigte sich diese Eingebung wieder. »Ich kann nicht viel für sie tun, ich kann nur regelmäßig kommen, um ihr den Übergang zu erleichtern.«
Agnes nahm den Beutel von der Schulter. »Und ich werde ihr ein Mittel zubereiten, das sie nehmen soll, wenn sie starke Schmerzen hat.«
»Tut, was ihr könnt«, sagte der Bauer Kilian und wandte sich mit zuckendem Gesicht ab.
Judith schloss erneut die Augen und legte ihre Hände auf die glühenden Schläfen der Mutter. Sie rief sich die schneebedeckten Gipfel im Winter, die glitzernden Kristalle auf der harschigen Schneedecke und die glatte Eisoberfläche des zugefrorenen Baches ins Gedächtnis. Bald spürte sie eine angenehme Kälte, die sie in ihre Fingerspitzen lenkte, wo sogleich ein Prickeln einsetzte. Beinahe sofort entspannten sich die Gesichtszüge der Mutter und eine lebendige Röte legte sich über ihre Wangen. Aus ihrer Kehle drang ein wohliges Seufzen und plötzlich schlug sie die Augen auf.
»Ich hatte einen wunderschönen Traum«, flüsterte Mechthild. »Ich war noch ein ganz junges Mädchen und kletterte auf ein Holzgestell, um bunte Bänder in die Äste der Dorflinde zu hängen. Der Wind ergriff sie und ließ sie vor dem blauen Himmel flattern...« Plötzlich unterbrach sich Mechthild und rückte von der Tochter ab. »Was willst du hier?Wenn du gekommen bist, um mich um Verzeihung zu bitten, kannst du lange warten. Das hättest du dir früher überlegen müssen.«
»Ich habe sie geholt!«, sagte Kilian. »Du solltest dankbar sein, dass sie überhaupt...«
»Ihr habt ja schon immer unter einer Decke gesteckt«, unterbrach ihn Mechthild. »Mir braucht niemand zu helfen - nicht einmal mein trotteliger Ehemann.«
»Ich habe dir eine Arznei zubereitet«, sagte Agnes. »Sie wird dir Erleichterung verschaffen, wenn...«
»Ach, die hohe Frau des Dorfes gibt sich auch die Ehre. Deinen Hexentrank will ich nicht. Den kannst du getrost wegschütten.« Plötzlich starrte Mechthild die Tochter an. Es war kaum zu glauben, zu welchem hasserfüllten Funkeln ihr ausgezehrtes Antlitz noch fähig war. »Ich kann nur hoffen, dass August bald zurückkehrt. Dann wird er dir Benehmen beibringen.«
3.
Zwei Tage nach Beendigung der Hochzeitsfeierlichkeiten betrat Hartmann den Palassaal. »Ihr habt mich rufen lassen?«
»Da bist du ja endlich!«, sagte der Herzog. Er saß in einem gepolsterten Stuhl und hatte die Beine hochgelegt,
damit das Blut abfließen konnte. »Meine alten Waffengefährten haben mich schon heute Morgen verlassen. Früher blieben sie mindestens eine Woche, um mit mir zu zechen.«
»Sie wollten Euch nur etwas Ruhe gönnen.«
»Ja, ja! Tritt näher und bring mir den Weinkrug mit, der auf der Tafel steht.«
»Das wirst du nicht tun«, sagte Bruder Stephan und wandte sich an den Herzog. »Herr, wenn Ihr jetzt weitertrinkt, kann ich nichts mehr für Euch tun. Ich sagte Euch schon, dass es vor allem dem Wein zuzuschreiben ist, dass sich Euer Blut verdickt hat und...«
»Die Freude an der Welt hat mich hierhergebracht und ich sehe keinen Grund, warum...«
»Ach, du meine Güte!«, sagte Bruder Stephan. »Ständig das alte Lied! Seit Jahren rede ich mit Engelszungen auf Euch ein, aber Ihr wollt einfach nicht hören. Stattdessen lacht Ihr nur und nennt mich insgeheim einen Quacksalber! Sperrt endlich die Augen auf! Ihr könnt ja nicht mal mehr aus eigener Kraft aufstehen. Wie wollt Ihr in diesem Zustand einen Erben zeugen? Wenn ich als Hofarzt nicht ernst genommen werde, wenn mir nur zu sagen erlaubt ist, was Euch in Eurer Genusssucht bestärkt, dann...«, Bruder Stephan stand auf, »... dann will ich nicht länger Euer medicus sein! Gehabt Euch wohl.«
»Gehabt Euch doch selber wohl«, sagte der Herzog und wandte sich an Hartmann. »Ich wusste immer, was gut für mich und alle anderen ist. Kann ich mich plötzlich so täuschen? Sag selbst - hab ich je in meinem Urteil danebengelegen? Nun kannst du deine Dankbarkeit unter Beweis stellen! Vor deinen Augen schäme ich mich nicht, denn
ich weiß, dass du meinen Zustand nicht ausnutzen wirst. Bring mir den Krug, damit der Wein mir helfen kann, die Schmerzen besser zu ertragen. Mehr verlange ich nicht. Also los, mein Sohn, nun geh schon!«
»Herr...«
»Bist du noch nicht los?
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