Der Minnesaenger
notdürftige Lager. Als ihr der Unterschied zur Strohmatratze bewusst wurde, krallte sie vor Wut die Finger in den Dreck.
Augusts Heimkehr zertrümmerte nicht nur die Hoffnungen auf ein Glück mit Hartmann, sondern gefährdete auch ihr Leben als Heilerin. Sie hatte fürchterliche Angst, dass sie alles verlieren könnte, was ihr etwas bedeutete. Sie kannte ihren Ehemann gut genug, um zu wissen, dass er etwas im Schilde führte. Nur konnte sie sich nicht vorstellen, was er plante und welche Rolle ihr dabei zugedacht war.
Früher hätte sie ihre Mutter um Rat gefragt, aber diese Zeiten waren schon lange vorbei. Heute bestimmte sie selbst, welchen Weg sie einschlug. Als Heilerin hatte sie einige Erfahrungen im Umgang mit Menschen gesammelt. Schwierigen Situationen stellte man sich am besten sofort. Erst wenn man alle Hintergründe kannte, konnte man die geeigneten Maßnahmen ergreifen.
Entschlossen erhob sich Judith von dem Lager und machte sich durch die Dunkelheit tastend auf den Rückweg. Sie erreichte den Hof im Morgengrauen. Einige Bauern schliefen im Gras ihren Rausch aus. Von den Querbalken des Stalles baumelten die Reste eines Schinkens. Ihr Ehemann saß mit aufgeschnürtem Wams auf einer Bank und schöpfte aus einem Fass einen Krug mit Bier. Er begrüßte sie so leutselig, als käme sie gerade vom Äpfelpflücken zurück. Er plauderte über dieses und jenes und bald begriff sie, dass er sich in einer neuen Rolle erprobte.
»Jetzt bin ich schon so alt geworden wie unser Heiland Jesus Christus, als er am Kreuze starb«, sagte August und nahm einen tüchtigen Schluck. »Jeder, dem eine solche
Gnade zuteilwird, muss sich besonders anstrengen, um dem Allmächtigen seine Dankbarkeit zu zeigen.«
Für Judith war das salbungsvolle Gerede erträglicher als die Gewalt früherer Tage. »Wie willst du das anstellen?«, fragte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben.
»Ich werde Kaufmann! Zwar habe ich den Fernhandel nicht gelernt, aber ich kenne einen Mann, der fließend Italienisch spricht und auf den Märkten in Venedig und Bologna einkauft. Er weiß genau, wie viele Soldaten zur Verteidigung einer Kolonne gebraucht werden, wie viele Zelte, Planen und wie viel Proviant mitgeführt werden müssen, wie hoch die Zölle und Abgaben ausfallen, welche Handelswege zu welcher Jahreszeit passierbar sind und welche Route die sicherste ist. Er kennt alle Maße und Gewichte und fällt auf keinen Betrug herein.«
»Und welche Aufgaben willst du übernehmen?«
»Selbstverständlich die entscheidenden. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Händler nicht schon früher auf die Idee gekommen sind. Da muss erst einer wie ich kommen, um ihnen zu zeigen, wie es richtig gemacht wird.«
»Was soll das bedeuten?«
»Die Kaufleute sind ständig unterwegs, um Geschäfte abzuschließen. Alles machen sie alleine und das kostet unnötig viel Zeit und Geld. Ich habe vor, die Aufgaben zu verteilen. Mehrere Einkäufer bereisen die Märkte und beliefern mich mit Waren aus verschiedenen Regionen. Mein Sortiment wird so reichhaltig sein, dass ich keine Konkurrenz fürchten muss.«
Judith musste sich zusammenreißen, um sich von ihren Gefühlen nicht hinreißen zu lassen. Sie rief sich ins Gedächtnis,
dass ihr Vater früher immer gesagt hatte, dass Hass so schädlich wäre wie die Sünde selbst, weil er die Fähigkeit zur Liebe zersetzte und nichts als Verbitterung zurückließ. »Du bist nicht einmal Bürger.«
»Da täuschst du dich aber gewaltig, meine Liebe. Der Rat der Vierundzwanzig hat gestern über meine Aufnahme in die Stadtgemeinde entschieden. Ich habe sogleich meine Eintrittsgebühr entrichtet und feierlich geschworen, dass ich einen Panzer tragen und der Sturmglocke folgen werde, wann immer sie ertönt. Hahaha!«
»Und warum bist du nach Aue zurückgekommen?«
»Als ehrbarer Kaufmann brauche ich eine ehrbare Ehefrau. Was sollen die Bürger denn denken, wenn ich im Turmhaus wohne und meine Frau auf dem Acker schuftet? Du gehörst an meine Seite - ob du willst oder nicht. Außerdem brauchst du mal wieder einen richtigen Kerl, der es dir anständig besorgt. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob du unter dem Wollumhang immer noch so...«
»Nein«, sagte Judith. »Du wirst mich nie wieder anrühren!«
»Und wer soll mich daran hindern? Wenn ich Lust dazu habe, schlage ich dir so lange in dein hübsches Gesicht, bis du die Engel singen hörst.«
»Ich hab schon lange keine Angst mehr vor dir, August.
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