Der Minnesaenger
schönen Versen eine Botschaft zu verpacken, die sich für alle Zeiten in den Köpfen festsetzen sollte. Seine Gefühle durften ihn bei diesem wichtigen Vorhaben nicht behindern.
Entschlossen ging er zurück in seine Kemenate. Er legte zwei Scheite Lindenholz nach und entzündete einen Kienspan, mit dem er die Kerze ansteckte. Er wickelte die Decken um seinen Leib, langte nach dem Griffel und der Wachstafel, auf der er zuweilen Endreime für neue Lieder festhielt, und begann sofort mit der Arbeit. Er wusste, dass er nicht eher ruhen würde, bis sein Roman abgeschlossen sein würde.
Im Jahre des Herrn 1184
1.
Im neuen Jahr zog Judith in die Stadt. Sie bewohnte die oberste Etage des viergeschossigen Turmhauses, das nur einen Steinwurf vom Freiburger Münster entfernt lag. Ihr Ehemann war tatsächlich auf alle Forderungen eingegangen und hielt sich an das Zutrittsverbot. Auch war August weder zudringlich noch schlug er sie. Mittlerweile war ihr auch klar geworden, warum er ihre Weisungen befolgte und solchen Wert auf ihre Anwesenheit legte. Zahlreiche Menschen bewunderten ihre tätige Nächstenliebe; diese Anständigkeit sollte auf ihn abfärben und ihn bei seinen ehrgeizigen Plänen unterstützen. Und solange er niemandem Schaden zufügte, wollte sie ihn gewähren lassen.
Unterdessen richtete sie ihr Leben neu ein. Um ihre Tätigkeit in Aue fortzusetzen, war die Entfernung zu groß. Außerdem stand den Bauern dort Agnes, die fähigste Heilerin im Schwabenland, zur Seite. Ihr erschien es daher sinnvoll, sich umzuorientieren. In der Stadt durften Hebammen und Kräuterfrauen frei praktizieren. Die Konkurrenz war jedoch so groß, dass sie sich gegenseitig anschwärzten. Judith wollte kein weiteres Öl ins Feuer gießen und berichtete Agnes, die zu ihr zu Besuch gekommen war, von ihren Überlegungen.
Die gute Frau wusste wie immer Rat: »Warum versuchst du es nicht bei Vater Lothar?«, sagte sie. »Als Pfaffe und Spitalvorsteher hat er viel zu tun. Ich bin mir sicher, dass er für jede helfende Hand dankbar ist.«
Am folgenden Tag verließ Judith das Turmhaus in den frühen Morgenstunden, um ihr Glück zu versuchen. Ihr Ehemann stand wie immer vor dem Eingang und wartete auf Kundschaft.
»Ich wünsche dir einen gesegneten Tag«, sagte August.
Judith ging grußlos an ihm vorüber. Der Handel, den sie zu ihrem gegenseitigen Nutzen geschlossen hatten, beinhaltete nicht, dass sie zu ihrem früheren Peiniger freundlich sein musste. Außerdem war sie vollauf mit dem bevorstehendenTreffen beschäftigt. Noch nie hatte sie bei jemandem vorgesprochen, um ihre Dienste anzubieten. Was war Vater Lothar für ein Mensch? Gehörte er zu den strengen Klerikern, die dem Weib einen Verstand absprachen? Wie konnte sie sicher sein, dass er ihre Initiative gutheißen würde?
Judith zwängte sich an dem Handkarren eines Bierverkäufers vorbei. Neben ihr öffnete sich eine Haustür und eine Bürgerin schüttete Fischabfälle auf die Straße. Die Gräten, Innereien, Schuppen und Flossen würden so lange vor sich hinfaulen, bis sie sich festgetreten hatten.
Judith fiel es noch immer schwer, sich an die mangelnde Sauberkeit und die strengen Gerüche zu gewöhnen. Zwar gab es Vorschriften zum Bau der Aborte, aber kaum jemand hielt sich daran. Entweder waren die Gruben zu tief, dann verseuchten sie das Brunnenwasser, oder sie fielen zu flach aus, dann spülte der nächste Regenguss die Exkremente auf die Straße, und die Bürger bahnten sich auf Zehenspitzen einen Weg durch den Schlamm.
Nachdem sie das Lehener Tor hinter sich gelassen hatte, ließ der Gestank allmählich nach und Judith konnte frei durchatmen. Die St. Peterkirche lag nicht weit entfernt; als Filialkirche von Umkirch besaß sie Begräbnisrecht und gehörte zu der Ortschaft Wiehre. Die gewerbliche Siedlung erstreckte sich in lockerer Bebauung von der Grafenmühle bis zur St. Peterkirche entlang der Dreisam und verdankte ihren Namen einem Wehr, das zur Bewässerung der Kanäle diente.
Als Judith den Lattenzaun des Kräutergartens erreichte, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Neben ihrer Medizintasche trug sie einen Weidenkorb mit sich, in den sie einen selbst gebackenen Brotkuchen mit Rosinen und Walnüssen gepackt hatte. Ein weißes Linnen schützte die Nascherei vor Staub. Hoffentlich stimmt das Geschenk den Geistlichen milde, dachte sie.
Als Judith das Heilig-Geist-Spital betrat, fiel ihr Blick als Erstes auf das kleine Holzkreuz, das gleich neben einer Heiligenstatue an
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