Der Minnesaenger
nichts anderes, als Lieder zu summen und auf den Tod zu warten. Vielleicht kannst du ihr die Zeit etwas vertreiben. Ich meine - ich bin morgen auch im Spital und vielleicht besuchst du uns mal?«
2.
Die zufällige Begegnung mit Judith riss Hartmann aus seiner Lethargie. Ihre Entwicklung zu einer geachteten Heilerin führte ihm vor Augen, wie sehr er sich selbst vernachlässigt hatte. Deshalb entschloss er sich, alles dafür zu tun, um den letzten Eindruck zu korrigieren.
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, suchte er sofort den Barbier auf und ließ sich den Bart abnehmen. Von einer Waschfrau lieh er sich ein Reibebrett, um seine Kleidung zu säubern. Im Badehaus schrubbte er so lange seine Haut, bis sie überall gerötet war. Und von seinen letzten Münzen kaufte er sich eine Mahlzeit, die er mit frischem Brunnenwasser hinunterspülte.
Früh am Abend legte er sich auf die Strohmatratze, aber er fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich hin und her und starrte in das dunkle Gewölbe. In seinen Ohren pfiff und summte es, ständig juckte eine andere Hautpartie und in den Waden krampften sich die Muskeln zusammen. Trotzdem gelang es ihm, das Bedürfnis nach Beerenwein zu unterdrücken. Der Gedanke an Judith bewahrte ihn davor, in die Küche zu laufen und seinen Krug aufzufüllen.
Immer wieder rief er sich ihre Erscheinung ins Gedächtnis. Ihr langes, dunkles Haar schmiegte sich um den Hals und gab ihr etwas sehr Anmutiges. Ihr tiefer Blick verriet ihm, dass es kaum etwas gab, das sie noch nicht gesehen hatte. Gleichzeitig zeugten die Lachfältchen davon, dass sie sich in der Krankheit und dem Leid ihrer Patienten nicht verlor, sondern auch die schönen Seiten des Lebens genießen konnte.
Als er endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, träumte er
von dem Mainzer Hoffest. Auf einer abgelegenen Lichtung liebte er eine Frau, die eine Kapuze trug. Plötzlich zog sie die Kopfbedeckung ab und zeigte ihr Gesicht. Es war Judith und sie sah ihm direkt in die Augen. »Du musst sehr tapfer sein, damit wir vereint sein können!«, sagte sie.
»Sehr tapfer sein...«, murmelte Hartmann und schlug die Augen auf. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass er geträumt hatte. Stöhnend setzte er sich auf und raufte sich das Haar. Mit Burkhard von Schlatt hatte er lange versucht, die Geschehnisse der Nacht zu rekonstruieren, aber es war ihnen nicht gelungen. Eigentlich war es auch nicht wichtig, wie viel Wahrheit in dem Traum steckte. Entscheidend war allein, dass es Judith war, die zu ihm gesprochen hatte. Lange hatte er seine Sehnsucht betäubt. Zuerst mitArbeit, später mit Beerenwein. Jetzt war er ihr durch Zufall begegnet und hatte deutlich gespürt, dass die Anziehung noch immer so stark wie bei ihrer ersten Begegnung war. Damals war er jung und unerfahren gewesen und hatte sich von äußeren Umständen abhalten lassen. Ein solcher Fehler würde ihm nicht noch einmal passieren. Jetzt wusste er, dass er alles unternehmen würde, um ihnen eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen.
Als er wenig später vor dem Heilig-Geist-Spital eintraf, hatte er seit einem halben Tag und einer Nacht keinen Tropfen Beerenwein mehr angerührt. Er war nervös, gereizt und angespannt und hatte fürchterliche Angst, dass Judith erraten würde, was mit ihm los war. Er konnte nur hoffen, dass sein Zustand sie nicht abstieß.
Judith strahlte ihn an und sagte zu dem Spitalvorsteher: »Das ist Hartmann. Er ist gekommen, um für Gundula auf der Harfe zu spielen.«
»Nein«, sagte Hartmann und schämte sich fürchterlich. Mit zitternden Händen war es ihm unmöglich, die richtigen Saiten zu treffen. »Jedenfalls nicht heute...«
»Doch nicht etwa Hartmann vonAue?«, fragte Vater Lothar. »Ich habe sowohl das Klagebüchlein als auch den Erec gelesen. Ich muss gestehen, dass mich beides sehr beeindruckt hat.«
»Vielleicht kann ich mich zuerst anderweitig nützlich machen«, sagte Hartmann und blickte von Judith zu dem Geistlichen und wieder zurück. Der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen und lief ihm übers Gesicht. »Ich habe zwei gesunde Arme und Beine und...«
»Das kommt überhaupt nicht infrage«, sagte Vater Lothar. »Ein so berühmter Dichter wird mit Sicherheit nicht das Feld umgraben.«
Judith legte Vater Lothar die Hand auf den Unterarm und bremste ihn in seiner Begeisterung. »Wir können jede Hilfe gebrauchen. Du bist uns sehr willkommen.«
Hartmann begann sofort mit der Arbeit und fällte einen Baum, der von einem Sturm
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