Der Minnesaenger
einzuverleiben. Sie war davon überzeugt, dass auch mit dem Sohn etwas nicht stimmte. Sein Verhalten wirkte aufgesetzt, seine Höflichkeit unehrlich. Mechthild hatte nichts davon hören wollen und sie nur eine »Schwarzseherin« genannt. In ihrem Ehrgeiz ignorierte die Freundin alle Hinweise, die ihren Plan infrage stellten.
Agnes deutete auf die dräuenden Wolken. »Da braut sich was zusammen. Der Osterschmaus im Heimgarten fällt bestimmt aus. Bevor es anfängt zu regnen, will ich zur Adlerburg hinaufsteigen. Möchtest du mitkommen?«
»Zu gütig«, sagte Mechthild, »aber wir bleiben noch.«
Agnes wandte sich an ihren Sohn, der mit Judith etwas abseits stand. »Und du, Hartmann?«
»Ich will Judith noch ein Lied vorsingen«, sagte der Knabe.
»Ein Lied?«
»Ja«, sagte Judith. »Das hat er mir versprochen.«
9.
Hartmann und Judith spazierten flussaufwärts. Sie passierten die Brücke und die Stromschnellen und erreichten schließlich den kleinen Wasserfall.
»Traust du dich jetzt?«, fragte das Mädchen.
Hartmann hatte noch nie ganz alleine ein Lied vorgetragen und spürte ein seltsames Kratzen im Hals. Meine Stimme wird brechen, dachte er. Keinen Ton werde ich halten können! Warum hatte er Judith nur einen solchen Vorschlag gemacht?
Das Mädchen zupfte ihn am Ärmel. »Sind wir nun weit genug entfernt?«
Im Grunde war die Erklärung einfach. Seitdem der Spielmann ihm von den höfischen Festen erzählt hatte, träumte Hartmann von einem eigenen Publikum. Bei Judith hatte er sich so sicher gefühlt, dass er einen ersten Versuch wagen wollte. Instinktiv spürte er, dass sie seine Bemühungen ernst nehmen würde. Und wenn er nicht als Wolkenschieber gelten wollte, durfte er nicht länger zögern. Also holte er tief Luft und wollte gerade ansetzen, als starker Wind aufkam. Eine Böe blies ihm die Haare aus der Stirn. Ein Tropfen platschte ihm auf die Stirn und der Himmel grollte laut. In Sekundenschnelle prasselte der Regen auf seine Schultern, das Blattwerk und in den Bachlauf.
»Komm mit! Ich weiß, wo wir uns unterstellen können«, rief das Mädchen und lief an mehreren Flussweiden vorbei. Sie überquerte einen kleinen Sandstrand und nahm die Steinterrassen - auf Höhe des Wasserfalls - im Sprung. »Siehst du den Heuschober? Da müssen wir hin.«
Hartmann versuchte sie einzuholen, aber körperliche Anstrengungen war er nicht gewohnt. Er schlitterte über glitschiges Astwerk, stolperte über harte Wurzeln und sank bis zum Knöchel im Morast ein. Als er endlich die windschiefe Baracke erreichte, lehnte Judith bereits im offenen Tor und schaute in das Unwetter.
Keuchend trat Hartmann unter das schützende Dach und atmete den schweren und süßlichen Heugeruch ein. In der Dunkelheit erkannte er einen Ochsenkarren mit gebrochener Achse und mehrere Mistforken, die an der Wand lehnten. Er stützte die Hände auf den Knien ab und blickte nach draußen. Am Horizont ging ein silberner Blitz nieder.
»Warum ist Gott nur so zornig?«, fragte Judith. Undter ihren nassen, verklebten Haaren leuchtete die helle Kopfhaut.
»Wenn ich das wüsste«, erwiderte Hartmann, »könnte ich über Wasser wandeln.«
Vor Schreck schlug sich Judith die Hand vor den Mund. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«
»Das war doch nur ein Scherz!«, sagte der Knabe schnell. »Mein Freund, der Spielmann, sagt öfters solche Sachen. Ist mir einfach so rausgerutscht.«
»Über so etwas sollte man keine Witze machen! Und jetzt komm, wie müssen die nassen Sachen ausziehen, sonst erkälten wir uns noch.« Judith zog das Kleid über den Kopf und wickelte die Leibbinde ab. Dann schmiss sie die dampfenden Sachen über die Seitenwand des Ochsenkarrens und sprang ins Heu. Mit beiden Händen schaufelte sie die knisternden Halme über ihren Leib. »Was ist mit dir?«
Um die Fleischeslust nicht anzuregen, war Nacktheit im Kloster strengstens untersagt. Die Freizügigkeit seiner Familie hatte Hartmann schon in arge Gewissenkonflikte gestürzt. Zögerlich stellte er die Holzschuhe vor dem Speichenrad ab, so dass ihre Spitzen den Eisenbeschlag berührten. Schließlich gab er sich einen Ruck, zog die Kutte über den Kopf und sprang ebenfalls ins Heu.
»Singst du jetzt das Lied?«, fragte Judith.
»Wenn du es immer noch hören willst?«
»Deshalb sind wir doch hier!«
»Also gut! Ursprünglich stammt es von einem Dichter, den man Dietmar von Eist nennt. Er lebte als Freiherr im Donauländischen und starb vor einigen Jahren.« Hartmann rief
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