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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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Kapitel der Regula Benedicti heißt es: ›Omnes supervenientes hospites tamquam Christus suscipiantur‹«, erklärte der Knabe gerade, »was so viel bedeutet, wie: Mögen alle, die da kommen, wie Christus empfangen werden...«
    »Der Regen hat ausgesetzt«, sagte Judith. »Wir sollten aufbrechen!« Sie erhob sich aus dem Stroh und ging zum Ochsenkarren. Plötzlich hielt sie inne und drehte sich um. Ihr Blick begegnete den klaren, blauen Augen des Knaben, die scheinbar jedes Detail ihres Körpers auskundschafteten. Schnell legte sie die Hände auf die Brüste und das Geschlecht. Zum ersten Mal fühlte sich ihre Nacktheit wie eine Sünde an. »Guck mich nicht so an!«, platzte sie heraus.
    Nachdem sich beide hastig angekleidet hatten, verließen sie den Heuschober. Das versickernde Regenwasser trieb die Würmer an die Oberfläche. Aus einem Busch flatterte ein Rotkehlchen heran, stolzierte mit geblähter Brust umher, pickte einen langen Wurm auf und verschlang ihn mit schnappenden Schnabelbewegungen. Auf den Grashalmen brach sich das Sonnenlicht in den glitzerndenTropfen und hinter der Hügelkette zeigte sich ein Regenbogen.

    Judith bekam nichts von dem Naturschauspiel mit. Sie bemühte sich, Ordnung in ihre Gefühle zu bringen, die so verwirrend auf sie einstürmten, dass sie befürchtete, den Überblick zu verlieren. Warum konnte nicht alles so einfach wie in Kindertagen bleiben? Warum musste das Alterwerden mit so viel Schwierigkeiten verbunden sein?
    »Hab ich eine Dummheit begangen, wie im Heimgarten, als ich den Pfaffen aus dem Erzählstrom riss?«, fragte Hartmann. »Sag mir einfach, wenn ich etwas falsch gemacht habe.«
    »Das ist es nicht«, erwiderte Judith und wollte ihn an der Schulter berühren, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sogar diese kleine Geste fühlte sich falsch an. Warum geriet ihre heile Welt nur so heftig ins Wanken?
    Als sie Hartmanns verstörten Blick bemerkte, schoss ihr das Blut in die Wangen. »Entschuldige bitte«, stammelte sie und rannte davon.

12.
    Fünf Tage später hingen die Regenwolken immer noch grau und düster über Aue. Kleine Rinnsale vereinten sich zu Sturzbächen und donnerten ins Tal. Die Bauern fürchteten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Nur um ihre Notdurft zu verrichten oder das Vieh zu melken, trauten sie sich aus den Hütten. Schon am sechstenTag des Unwetters sahen sie die Gesichter der Toten in den Wolken. Zuweilen klang das Wehgeschrei einer Frau durchs Tal. Der Schäfer schlich in den Heimgarten, um den Himmel durch eine Melodie zu besänftigen, aber die
Sturmböen zerrissen sein Flötenspiel. Bald zweifelte niemand mehr daran: Das Jüngste Gericht stand kurz bevor!
    Auch Dankwart konnte sein Heim nicht verlassen und hockte tatenlos am Herdfeuer. Mit einem Kienspan stocherte er in der Glut und dachte über sein Leben nach. In der Vergangenheit hatte er oft genug erfahren, dass alles Sein vergänglich war. Das Glück bildete da keine Ausnahme. Trotzdem mussten Unterscheidungen getroffen werden - zwischen dem Erklärbaren, das man mit den Jahren zu akzeptieren lernte, und dem Unerklärbaren, das bis zum Tod nach einer Lösung verlangte und einen Mann von innen aufzehren konnte.
    Bei der Belagerung der Kelmünzer Burg hatte sich ein Pfeil in den Hals von Werner von Schlatt gebohrt. Dankwart hatte den Gefährten in die hinteren Linien getragen. Durch heftiges Mienenspiel hatte der Freund ihm zu verstehen gegeben, dass zwischen Engeln und Dämonen ein Kampf um seine Seele entbrannt war.
    Dankwart wusste nur zu gut, dass alle Menschen im Leben vom Tod umfangen waren. Soldaten wie Werner und er begegneten ihm besonders häufig. Deshalb war es ihm auch gelungen, das Ende des Gefährten als unmittelbare Folge des Krieges zu akzeptieren.
    Warum hingegen Agnes ihn von einem Tag auf den anderen zurückgewiesen hatte, gab ihm bis heute Rätsel auf. Ihr gemeinsames Leben war so reich an Zuneigung, Rechtschaffenheit und Gottesfurcht gewesen! Sosehr er sein Hirn auch zermarterte - er konnte einfach keine Ursache ausmachen.
    Als es heftig an der Tür klopfte, sprang Dankwart auf die Beine. Er stapfte durch den Raum und riss die Tür auf.
Im Eingang stand die Witwe. Ihr Wollumhang triefte vor Nässe. Der mächtige Busen wogte. Tränen liefen über ihr gerötetes Gesicht und vermischten sich mit dem Regen.
    »Was willst du?«, fragte Dankwart.
    »Herr«, schluchzte sie, »etwas Schreckliches ist

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