Der Minnesaenger
baden«, sagte Judith, »da hörte ich jemanden... Sind deine Ferien vorüber? Gehst du zurück zur Schule?«
»Ja!«
Für einen flüchtigen Moment berührten sich die Blicke der beiden.
»Im Winter ist der lange Weg bestimmt zu gefährlich, aber kommst du im nächsten Jahr zu Ostern wieder?«
Hartmann nickte.
»Singst du mir dann wieder ein Lied vor?«
»Wieso? Das verstehe ich nicht. Nachdem wir den Heuschober verlassen hatten, warst du so anders und bist weggerannt. Ich dachte, dass ich einen Fehler begangen hätte und...«
Die Wangen des Mädchens röteten sich. »Nein, du hast alles richtig gemacht. Ich fand dein Lied sehr schön und würde mich freuen, wenn wir uns im nächsten Jahr wiedersehen würden.«
»Natürlich!« Vor Freude und Eifer leckte sich der Knabe über die Lippen. »Im Sommer treffe ich den Harfner. Ich werde ihn bitten mir neue Melodien beizubringen. Wir könnten uns hier an den Bach setzen und...«
Judith ließ den Knaben reden und allmählich wurde ihr leichter ums Herz. Zum Abschied umarmten sich die beiden herzlich. Das Mädchen winkte ihm nach, bis er im
Wald verschwand. Dann schob sie sich durchs Buschwerk und kletterte auf einen Ast. Während sie die Beine über dem Bach baumeln ließ, beobachtete sie eine große Libelle, die über der glitzernden Wasseroberfläche dahinjagte.
Seit dem Pfingstfest hatte sie sich jeden Morgen vor dem ersten Hahnenschrei hier eingefunden und bis zum Mittag gewartet. Heute hatte sie Hartmann endlich getroffen und in aller Freundschaft mit ihm gesprochen. Heute hatte sie sich ihm ins Gedächtnis gerufen und für nächstes Ostern eine Verabredung getroffen. Still lächelte Judith vor sich hin. Jetzt war sie sich sicher, dass er sie nicht vergessen würde.
19.
Auch der September verstrich. In Hartmanns Ungeduld mischten sich die ersten Zweifel: Würde der Harfner sein Versprechen halten und tatsächlich wiederkommen?
Am dritten Sonntag im Oktober hockte der Spielmann endlich auf den Stufen des Gästehauses. Die Schnüre seines Lederwamses waren gelockert und der runde Bauch glänzte in der Sonne. Gerade redete er mit einem Bauern, dessen Gelächter sich wie ein Unwetter anhörte.
Hartmann befand sich gerade auf dem Weg zur Kapelle. Vor Freude hätte er am liebsten laut gerufen und gewunken, aber er wusste, dass ein solches Verhalten eine sofortige Bestrafung, vielleicht sogar eine Ausgangssperre nach sich ziehen würde. So hielt er sich zurück und konnte den Nachmittag kaum erwarten. Zwischen der Prim und der Terz musste er noch Handarbeiten verrichten und mit Ulrich den Reisigbesen schwingen.
»Die Spielleute sind ohne Ehre », sagte der Freund, dem die Ankunft des Harfners ebenfalls nicht entgangen war. »Sie nehmen Geld für die Darbietung ihrer Künste.« Er unterbrach die Kehrtätigkeit und blickte Hartmann herausfordernd an. »Honorius Augustodunensis spricht ihnen jede Hoffnung auf das Jenseits ab. Nach ihm sind die Spielleute nichts weiter als die Diener Satans. Ihre Musik entfernt die Menschen von Gott und lässt sie wie geistlose Puppen tanzen.«
»Soll ich das Schullokal ganz alleine fegen?«, fragte Hartmann.
»Auch Berthold von Regensburg zählt sie in seiner Ständeordnung zum verdorbenen zehnten Chor, dem der gefallenen Engel.«
»Ist mir längst bekannt. Er behauptet, dass die Taufe bei diesen Menschen ein verschwendetes Gnadenmittel sei, da sie in Sünde und Unrecht leben!«
»Warum erzähle ich dir das eigentlich, du weißt es ja selber. Nicht umsonst hat uns Jean de Reims den Umgang mit ihnen verboten. Sie sind nichts als Lasterbälger und Schmarotzer.« Ulrich drosch den Reisigbesen über die Steinplatten. »Außerdem gehören die Sonntagnachmittage uns. Hast du das vergessen? Was ist dir wichtiger - die Gesellschaft des Spielmanns oder ein Spaziergang mit mir?«
Hartmann richtete sich auf und streckte den Rücken durch. Er hatte längst begriffen, dass der Freund kein Verständnis für seine Liebe zur Musik aufbrachte. »Du bist am Nachmittag mit dem Zeichnen der Miniaturen beschäftigt. Außerdem möchte ich heute alleine durchs Tal spazieren. Zum Nachtgebet bin ich wieder zurück.«
»Wenn Jean de Reims erfährt, dass du den Spielmann triffst, wird er dich so verprügeln, wie du es noch nie erlebt hast.«
»Von wem sollte er es denn erfahren? Ich werde es ihm jedenfalls nicht auf die Nase binden.«
»Soeben hast du gestanden! Du hast zugegeben, dass du die Vorschriften unseres Schulmeisters brechen willst.
Weitere Kostenlose Bücher