Der Minnesaenger
Zentimeter unter ihm trieb und doch unerreichbar war.
Das blonde Haar des Kindes sah aus wie ein Heiligenkranz, die Augen waren angstvoll geweitet und aus der Nase quollen Luftblasen. Es handelte sich um Luitgart - einen Knaben von fünf Sommern, der im vergangenen Winter beinahe an einer Entzündung der Atemwege gestorben wäre.
Fest umklammerte Judith den Beilstiel und spähte in alle Richtungen aus. Weit und breit war keine Hilfe in Sicht. Die Eltern des Knaben waren so kopflos, dass von ihnen
keine Entscheidung erwartet werden durfte. Sie musste die Führung übernehmen. Als ihr stromabwärts einige Eislöcher auffielen, hatte sie eine Idee. »Schäfer, komm mit«, rief sie. »Ich weiß, wie wir deinen Sohn retten können!« Sofort rannte sie am Ufer entlang und überholte den treibenden Knaben. Ihr war klar, dass sie nur einen einzigen Versuch hatten. Deshalb mussten sie genügend Abstand zwischen sich und das Kind bringen.
»Wie weit willst du noch?«, schrie der Schäfer. »Wenn der Junge ertrinkt, bist du schuld!«
»Zieh deine Tunika aus«, befahl Judith und sprang aufs Eis. Sofort hieb sie mit dem Beil auf das alte Loch ein. Eissplitter schossen durch die Luft. »Luitgart wird nicht genau an dieser Stelle vorbeitreiben«, rief sie ihm keuchend zu, »sondern rechts von uns. Vielleicht hat sich seine Lunge schon mit Wasser gefüllt, dann treibt er tiefer, in der Nähe des Grundes. Du musst deinen Oberkörper in das Loch stecken und nach ihm greifen. Hast du das begriffen?«
Zuerst starrte der Schäfer sie nur an, dann zerrte er sich den derben Wollstoff vom Leib und kniete sich vor das Loch. Tief holte er Luft und tauchte in das eisige Wasser ab. Damit er nicht selber hineinrutschte, setzte sich Judith auf seine Unterschenkel und hackte das Beil in das Eis, um einen Halt zu haben.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich das Hinterteil des Schäfers hin und her bewegte. Judith rutschte von seinen Beinen und umklammerte seine Füße. Mit einem Stöhnen tauchte der Mann auf, zog den Knaben aus dem Loch und legte ihn aufs Eis. Das Kindergesicht war totenbleich, die Atmung hatte bereits ausgesetzt.
In Freiburg war Judith einmal Zeugin gewesen, wie ein
Bader einen ertrunkenen Mönch zurück ins Leben geholt hatte. So drückte sie dem Knaben die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu und blies ihm ihren Atem in den Rachen. Tatsächlich hustete Luitgart plötzlich und erbrach einen Schwall Wasser. Obwohl seine Atmung wieder einsetzte, hob sich sein Brustkorb nur schwach. Er hatte nicht genügend Reserven, um gegen die Unterkühlung anzukämpfen. Judith konnte förmlich sehen, wie sich seine Seele davonstehlen wollte. Seltsamerweise wusste sie auch jetzt, welche Maßnahme sie ergreifen musste. Sie zerrte ihm die nassen Sachen vom Körper und wickelte seinen Leib in die Tunika des Vaters. »Wir müssen ihn in eure Hütte schaffen! Schnell!«
Dieses Mal reagierte der Schäfer sofort. Er hob seinen Sohn auf und rannte los. Der kleine Kopf hing über seinem Ellenbogen und schaukelte hin und her. Die Schäferin lief neben ihrem Sohn und strich ihm über die Wange: »Halt durch, mein Kleiner. Halt bitte durch!«
Der Schäfer trat die Tür auf, so dass Schnee aufstob und in den Wohnraum wirbelte. »Was jetzt?«
»Leg ihn auf das Strohlager und deck ihn mit Fellen zu.« Judith riss sich die Kleidung vom Leib, bis sie nackt war. Geschwind schlüpfte sie unter die Schaffelle und drückte den kalten Kinderleib an sich. Mit ihren Händen rieb sie über die Gliedmaßen, um den Blutfluss anzuregen. Flüsternd versuchte sie seine Seele zum Bleiben zu bewegen. Judith ließ erst von dem Jungen ab, als sie sicher war, dass er das Ärgste überstanden hatte. »Es wird alles wieder gut«, sagte sie und strich dem Kind eine nasse Haarsträhne aus der Stirn.
»Woher weißt du das alles?«, fragte der Schäfer. »Du benimmst dich wie die alte Kräuterhexe und...«
»Halt den Mund!«, sagte sein Weib streng. »Sie hat unser Kind gerettet. Luitgart lebt - das alleine ist wichtig.«
Judith erhob sich von dem Strohlager und sagte: »Kocht Wasser auf und löst etwas Honig darin auf. Verabreicht ihm den Trank in kleinen Schlücken, damit er ihn langsam von innen belebt. Außerdem müsst ihr ihn warm halten. Legt euch zu ihm und achtet darauf, dass er gleichmäßig...«»
Plötzlich hielt sie inne. Der Gesichtsausdruck des Schäfers hatte sich verändert. In seinen Augen glomm ein Feuer auf. Sein Blick strich über ihren Hals und
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