Der Minnesaenger
einem Ehemann Ausschau hielt? Und wenn ja - welche Botschaft hatte er ihr mitteilen wollen?
Auch das Gefühl der Scham ließ sie nicht los. Seitdem Judith denken konnte, gehörte Nacktheit zu ihrem täglichen Leben. Sie bemerkte nicht einmal, wenn ihr Vater mit baumelndem Geschlecht über den Hof stolzierte oder mit blankem Hintern Holz hackte. Warum nur hatten die neugierigen Blicke des Knaben sie so verunsichert? Fürchtete sie etwa, dass ihm ihr Leib nicht gefiel? Und wenn ja - warum maß sie seinem Urteil so viel Bedeutung zu?
Eines wusste sie jedenfalls mit Sicherheit. Es war nicht ihre Umgebung, die sich veränderte, sondern allein ihre Wahrnehmung. Gestern Nacht wälzte sich beispielsweise der Vater auf die Mutter und bewegte sich ruckartig hin und her. Noch im Winter hätte sie sich genervt die Ohren zugehalten. Jetzt ergründete sie im Geheimen, inwieweit dieses Stöhnen und Ächzen auch sie betraf.
Natürlich war ihr klar, dass Männer mit ihren Frauen schliefen. Bisher hatte sie nur nicht gewusst, warum die Eltern so viel Geschmack daran fanden. Seitdem sie Hartmann kannte, spürte sie vage, dass dieser Akt mit der Zuneigung zusammenhing, die man einer Person des anderen Geschlechts entgegenbrachte. Zwar hatte sie dem Knaben
gewiss nicht so nah sein wollen, aber auch sie hatte es nach einem Wiedersehen verlangt. Wie oft hatte sie sich in der vergangenen Woche vorgestellt, dass er plötzlich in der Tür stehen würde? Wie oft hatte sie sich danach gesehnt, noch mehr von seinem Leben in Sankt Georgen zu erfahren? Eigentlich war sie sicher, dass diese Wünsche ganz natürlich waren. Nur die Frage, warum sie so schüchtern war, wenn sich der Knabe in ihrer Nähe aufhielt, gab ihr Rätsel auf.
Schon bei ihrem ersten Treffen hatte sie begriffen, dass Hartmann in seinem Denken und Handeln von einer bestechenden Klarheit war. Wenn man ihm eine Weile zuhörte, begriff man sofort, dass er nicht nur Ideen hatte, sondern sie auch in die Tat umsetzte. Sein inneres Erleben und sein Handeln deckten sich. Vermutlich war dies sein erstaunlichster Wesenszug.
In ihrem Herzen herrschte hingegen ein heilloses Durcheinander. Sie misstraute ihren heilerischen Fähigkeiten und hatte eine fürchterliche Angst davor, was sie auf dem Grund ihre Seele entdecken könnte. Ja, vermutlich war sie in seiner Gegenwart so verunsichert, weil sie sich regelmäßig bewusst wurde, wie unvollkommen sie selbst war.
Die Kapelle rückte immer näher. Sie sah schon den Flammenschein, der aus den Fenstern drang. Warum sagte Hartmann nichts? Fühlte er nicht, dass sein Schweigen sie quälte? Oder begleitete er sie nur aus Mitleid?
15.
Nach und nach füllten sich die Bänke. Immer wieder erklang ein schepperndes Husten. Als ein Knecht seinem Vordermann in den Nacken nieste, kam es fast zu einer Schlägerei. Mit scharfer Stimme gebot Dankwart den Streithähnen Einhalt. Soweit er feststellen konnte, waren alle Bauern seinem Aufruf gefolgt.
»Weiß einer von euch, wo sich der Pfaffe zurzeit aufhält?«, rief Dankwart. Als niemand antworte, zeigte er auf einen Hörigen. »Wann hast du den Prediger zuletzt gesehen?«
»Ich?« Der Bauer presste seine Lederkappe so fest zusammen, dass seine Fingerknöchel weiß anliefen. »Bei... bei der Osterpredigt, Herr!«
»Hat jemand ihn noch nach dem Gottesdienst gesehen?«
Die Hörigen schielten zur Witwe. Ihr Verhältnis zu dem Pfaffen war allgemein bekannt. Die beleibte Frau schüttelte den Kopf und brach in Tränen aus.
»Hat jemand gesehen, wohin er nach der Osterpredigt ging?«
»Er lief zu seinem Haus«, rief ein Knecht. »In seinen Händen trug er ein braunes Säckel.«
»Darin befanden sich die unbefleckten Spenden für die Kranken in Jerusalem«, sagte eine Bäuerin.
Dankwart wusste, dass der Pfaffe bei allen Herrenfesten eine Reliquie präsentierte, damit die Bauern in den Opferstock spendeten. »Ich habe seine Hütte nach einem Hinweis für sein Verschwinden durchsucht, von einem braunen Säckel fehlte jede Spur.«
»Dann ist der Pfaffe mit der Kollekte durchgebrannt!«, mutmaßte der Knecht. »Lampert ist alles zuzutrauen!«
»Nein«, sagte die Witwe und musterte ihn feindselig. »Er war hier glücklich.«
»Dann hat ihn jemand erschlagen, um das braune Säckel zu stehlen.«
Voller Entsetzen griff eine Bäuerin nach der schwieligen Hand ihres Ehemanns. Auch der Blick seiner Kinder richtete sich ängstlich auf ihn. Entschlossen erhob er sich von der Bank und sagte mit dem Brustton der
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