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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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fürchteten zu Recht, dass ein anderer Zögling sie verraten könnte. Verstöße blieben nur selten unentdeckt, weil jeder Knabe verpflichtet war, beim Schülerkapitel Anzeige zu erstatten, wenn er von einer strafbaren Handlung wusste. Kam er dieser Pflicht nicht nach, so drohte ihm die gleiche Bestrafung wie dem Schuldigen. »Mein Körper ist ein Gefäß der Sünde. Bei der gestrigen Mahlzeit stahl ich einen Apfel und verzehrte ihn in der Nacht. Ich bereue es aufrichtig, Vater, und gelobe, es niemals wieder zu tun.«
    »Melius est minus egere quam plus habere«, sagte der Abt. »Das Glück besteht nicht darin, viel zu besitzen und zu verbrauchen, sondern darin, wenig Bedürfnisse zu haben und sie ohne viel Mühe zu befriedigen. Wie Eva, die Mutter der Sünde, hast du dich vergangen. Benedikt mahnt uns, das Fasten zu lieben, um die Leiden Christi zu teilen,
und den Armen zu essen zu geben. Du sollst daher für die Dauer von einer Woche auf feste Nahrung verzichten und deine Ration den Bittstellern bringen. - Hat noch jemand einen Verstoß begangen?«
    Nacheinander erhoben sich die Zöglinge: »Ich, Vater! Aus Zorn über meine Fehlbarkeit habe ich einen Griffel zerbrochen.«... »Ich, Vater! Während der Mette bin ich eingeschlafen.«... »Ich,Vater! Im Refektorium ist mir ein Krug auf dem Boden zerschlagen.«...
    Hartmann schwieg und beobachtete Ulrich. In der vergangenen Woche hatte sich der Freund auffällig benommen. Im Refektorium hatte er sich an einen anderen Tisch gesetzt, um seine Mahlzeit einzunehmen. Im Schreibsaal hatte er geschwiegen, auch wenn Hartmann das Wort an ihn gerichtet hatte. In der Nacht war er in seinem eigenen Bett geblieben und hatte bis in die Morgenstunden geschluchzt. Sein Gesicht wirkte eingefallen, schwarze Ringe lagen unter seinen Augen. Auch das Verhalten von Jean de Reims hatte sich verändert. Während des gestrigen Grammatikunterrichts hatte der Schulmeister ihn bei den Übersetzungen übergangen. Nicht ein einziges Mal hatte er eine Frage an ihn gerichtet, nicht ein einziges Mal hatte er ihn gemaßregelt. Wenn Hartmann die Hinweise deutete, konnte er nur eine Schlussfolgerung ziehen: Ulrich hatte seine Drohung wahrgemacht und dem Schulmeister gestanden, was er wusste. Dieser hatte daraufhin beim Abt Anzeige erstattet und einen Mönch zu dem Klosterhörigen geschickt, um die Harfe sicherzustellen. Das kostbare Instrument lag nun in einem Wollsack neben dem Schulmeisterstuhl.
    Nachdem der Abt die Zöglinge angewiesen hatte, die
auferlegten Bußen in Demut zu versehen, heftete sich sein Blick auf Hartmann. »Gibt es noch weitere Vergehen, die angezeigt werden müssen?«, fragte er.
    Die Lippen des Knaben blieben verschlossen. Mit der Harfe hatte Blixa ihm alles vermacht, was ihm etwas bedeutet hatte. Der Spielmann war viel freundlicher zu ihm gewesen, als der Schulmeister oder der Abt es je waren. Für seine Zuwendung war Hartmann ihm sehr dankbar und er würde seine Freundschaft niemals verraten. Er sehnte sich fort von diesem Ort und musste daran denken, wie er mit Judith im Stroh gelegen hatte. In dem Heuschober hatte er sich vollkommen sicher gefühlt.
    »Ein letztes Mal frage ich, gibt es noch weitere Verfehlungen, die gestanden werden müssen?«
    »Ich, Vater«, rief Ulrich plötzlich und sprang auf die Füße. »Ich hab gesündigt. Gesehen habe ich, wie Hartmann immer tiefer in Satans Fänge geriet, und ich habe nichts unternommen. Seit Jahren traf er sich an den Sonntagen mit einem Spielmann bei dem Felsen. Ich wusste es und tat nichts. Dort spielten sie gottlose Lieder. Die Texte handelten von unehelicher Minne und forderten die Menschen auf, gegen die zehn Gebote zu verstoßen. Und ich, ich hab nichts unternommen; einmal hab ihn sogar begleitet. Satan machte sich meine Freundschaft zunutze! Jede Buße, die Ihr mir auferlegt, will ich mit Demut und Dankbarkeit annehmen.«
    Der Blick des Abtes fixierte Hartmann unbarmherzig.
    Der Knabe schaute durch die Bogenfenster in den Garten. Seltsamerweise musste er an die Vögel denken, die er im vergangenen Jahr vom Gipfel des Schönebergs beobachtet hatte. Besonders hatte ihm der Falke mit seinen
weiten Schwingen gefallen. Er war vollkommen frei gewesen und hatte niemandem Rechenschaft ablegen müssen. Hoch oben war er über Aue dahingesegelt und hatte die Winde genutzt. Manchmal hatte sich der Knabe gefragt, wie weit sein Blick wohl gereicht hatte. Hatte er bis nach Freiburg sehen können? Oder sogar bis ins Frankenland?
    »Hast du

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