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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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sich in die Hochzeitsvorbereitungen.
     
    Kurz nach dem Pfingstfest arbeitete sie an einem Haarkranz und drehte ihn auf dem Tisch, um noch eine leere Stelle ausfindig zu machen. Die getrockneten Blüten knisterten leise; die Farben - ein tiefes Rot, das Indigoblau und ein warmes Gelb - harmonierten eindrucksvoll.
»Sieh nur«, sagte Judith. »Ich glaube, er ist fertig. Ist er nicht schön geworden?«
    »Sehr schön«, erwiderte Mechthild und schnitzte an einem Holzblock, der einmal einen Napf abgeben sollte.
    »Die gedämpften Farben passen besser zu meinem Haar. Meinst du nicht auch, Mutter?«
    »Willst du ihn nicht mal anprobieren?«
    »Ach, nein«, erwiderte Judith und deutete auf den Napf. »Es wird eine Freude sein, aus ihm zu essen. Du gibst dir so viel Mühe. Und ich bin dir so dankbar. Ich werde reich sein, nicht wahr?«
    »Du wirst Land besitzen, Schafe, ein Säckel voll mit Silbermünzen und...«
    In diesem Moment ertönte ein Quietschen und ein kühler Luftzug strich durch den Raum. Der Hasgelhof verfügte über zwei Türen: eine führte in den Wohnraum, durch die andere betrat Judiths Vater, Kilian, gerade den Stallbereich. Das Stroh knisterte unter seinen Füßen. »Heiho, da sind wir, das ist...«
    Mechthild beobachtete das Schauspiel aus scharfen Augen. »Ein Esel«, vollendete sie den Satz.
    »Genau«, rief Kilian und schnippte gegen die langen Löffelohren. »Ein prächtiges Tier, nicht wahr?«
    »Eine hässlichere Kreatur ist mir noch nicht untergekommen«, erwiderte Mechthild. »Ich dachte, dass alle Esel gleich aussähen, aber dieser...«
    »Ich hab ihn gesehen und sofort gewusst, dass es keinen anderen für mich gibt!«
    »Vater!«, rief Judith.
    »Ja, mein Täubchen.«
    »Hast du an den gelben Faden gedacht?«

    »Wie hätte ich ihn vergessen können?« Kilian nahm den Ballen vom Rücken des Tieres und legte ihn ins Stroh. Mit den Händen wühlte er in allerlei Krimskrams, bis er fündig wurde. Stolz händigte er der Tochter ein Holzstück aus, um den ein gelber Nähfaden gewickelt war.
    »Ich laufe gleich rüber zur Adlerburg«, rief Judith und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihrem Vater einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Vielen Dank!«
    »Lass bloß die Tür offen stehen!«, sagte Mechthild. »Der Esel verpestet jetzt schon die Luft.«
    Der Abend war klar und zahllose Sterne funkelten am Firmament. Judith lief den Abhang hinunter und an der Hütte des neuen Pfaffen vorbei. Aus der Fensterluke strahlte Feuerschein in den Kräutergarten. Nur zu den Predigten verlässt er das Haus, dachte Judith. Die derben Scherze der Bauern ängstigen ihn. Wie gerne würde ich ihm sagen, dass er keine Angst zu haben braucht. Es gibt eine wunderbare Macht, die uns alle beschützt.
    In das leise Plätschern des Baches mischten sich die Rufe einer Eule. Die Baumkronen hielten das Mondlicht von dem Pfad fern, so dass der Grund kaum zu erkennen war. Judith musste aufpassen, damit sie sich nicht den Knöchel verstauchte. Oben war das Tor schon geschlossen, aber der rechte Flügel gab nach, als sie sich dagegenstemmte. Sie ging über den Hof und beobachtete, wie Agnes vor das Steinhaus trat.
    »Judith, was suchst du hier?«
    »Seht nur, Herrin!« Das Mädchen hielt den gelben Faden hoch. »Wir wollten doch Sterne in den Schulterumhang sticken und ich wollte nicht bis morgen warten.«
    »Na, dann komm rein.« Im Wohnraum begab sich Agnes
zum Herd, blies in die Glut und legte ein Holzscheit nach, das langsam Feuer fing. Sie steckte einen Kienspan in Brand und entzündete eine Talgkerze. Aus der Truhe entnahm sie Schultertuch und Stickzeug und brachte beides zum Tisch. Während das Mädchen das Tuch über das Tamburin spannte, griff Agnes nach einer Decke und legte sie sich über die Schultern.
    »Wie geht es deiner Mutter?«
    »Sie ist vollauf mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt«, erwiderte das Mädchen und ging zum Herd. »Sie ist so fleißig und so gut, sie will immer nur mein Bestes.«
    Judith fischte ein Stück schwarze Holzkohle aus der Asche und trug es zum Tisch. Alle Lektionen hatte sie begierig aufgesogen. Es ist wichtig, rief sie sich ins Gedächtnis, sich eine genaue VorStellung von Form und Größe des Gegenstands zu machen, den man abbilden will . Geschickt zeichnete sie einen Halbmond und mehrere Sterne auf den Tisch. Fragend blickte sie zu Agnes auf, die zur Bestätigung nickte. Judith schob von unten die Nadel durch den Seidenstoff, griff nach der Spitze und zog den Faden hindurch.

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