Der Minnesaenger
Schnecke?«
»Ich gönne dir diesen Triumph«, erwiderte der Freund. Seine Nase berührte fast das Pergament. Die Zunge folgte den Bewegungen des Federkiels, so als könnte sie der
Hand eine genauere Führung abringen. »Du bist in diesen Tagen schnell, weil du dich auf Aue freust, aber du solltest nicht übermütig werden, sonst passiert noch etwas Unvorhergesehenes. Und jetzt stör mich nicht weiter. Ehe die Glocke läutet, muss ich diese Seite abschließen.«
»Dann schreib mal schön weiter. Ich sehe mir in der Zwischenzeit die Zeichnungen von der Höllenfahrt an.« Hartmann überzeugte sich, dass der Gang leer war, und schlich auf Zehenspitzen zum Regal. Er zog ein schweres Buch heraus, legte es auf das Pult und blätterte mehrere Seiten vor, bis er auf die Figuren stieß, die perfekte Abbilder der Natur waren. Sie wirkten so plastisch, als wären sie aus Fleisch und Blut. Ihre Körperhaltung und ihre Mimik erzählten Geschichten, wie Hartmann es nur vom geschriebenen Wort her kannte. Ganze Nachmittage konnte er sich in die Zeichnungen vertiefen und die Welt ringsum vergessen...
Nach dem Nachtgebet war Schlafenszeit. Auf seinem Strohlager verschränkte Hartmann die Hände hinter dem Kopf und starrte in das Gewölbe. Seit knapp einem Jahr hatte er einen wiederkehrenden Traum: In einem weißen Gewand schritt Judith auf ihn zu. Unter dem dünnen Stoff zeichneten sich ihre Brüste, das Geschlecht und die Beine ab. Zärtlich legte sie die Arme um seine Schultern und küsste ihn lange auf den Mund. Er wollte ihr näher sein, sich ganz fest an sie drücken, aber er wusste nicht, wie er es bewerkstelligen sollte. Unruhig wälzte er sich hin und her, bis er erregt und verschwitzt aufwachte.
Hartmann sehnte diesen Traum herbei, gleichzeitig beschwerte er sein Gewissen, denn er ahnte, dass er der Sünde der Fleischeslust nahestand, die - wenn er den Worten des Schulmeisters glaubte - das raffinierteste Instrument
des Teufels war. Sowohl im Beichtstuhl als auch gegenüber Ulrich schwieg er von diesen Dingen. Der Freund würde zwar für sein Seelenheil beten, war aber mit einer zehrenden Leidenschaft auf alles eifersüchtig, was Hartmanns Aufmerksamkeit von ihm ablenkte. Um seinen Gedanken so kurz vor dem Einschlafen noch eine gute Wendung zu geben, rief sich Hartmann eine Melodie ins Gedächtnis und summte sie leise vor sich hin.
»Morgen ist Sonntag«, sagte Ulrich, der von seinem Lager herübergekrabbelt war und sich an ihn schmiegte. »Wirst du wieder auf der Harfe spielen?«
»Wenn mir der Sinn danach steht!«
»Was soll das heißen? Spielst du nun oder spielst du nicht?«
»Vor drei Wochen hab ich dich zum Felsen mitgenommen, damit du dich nicht länger um mein Seelenheil sorgst. Ich habe dich nicht mitgenommen, damit du mich kontrollierst.«
»Die Musik entspringt deinem Inneren. Du kennst nicht mal die Schriften über die Tonkunst. Ich finde das wild und frevlerisch.«
»Meine Leistungen im Unterricht waren nie besser, erst heute lobte Jean de Reims meinen Fleiß. Das sollte dir Beweis genug sein, dass mein Geist sich nicht verwirrt, sondern durch die Musik klarer wird.«
»Früher unternahmen wir Spaziergänge ins Umland, die gleichen Themen interessierten uns. Auch wenn wir verschiedene Standpunkte vertraten, versiegte der Austausch nie. Deine Beiträge waren klug, die Worte treffend gewählt. Sie haben meinen Horizont erweitert, und ich habe geglaubt, dass ich dir den gleichen Dienst erwiesen habe,
aber seitdem der Spielmann dir die Harfe geschenkt hat, dreht sich alles nur noch um die ordinäre Musik.«
»Ich hab dir schon einmal gesagt, dass sich die Musik nicht so stark vom Psalmengesang unterscheidet, wie du glaubst. Um harmonisch zu klingen, müssen beide einem Gerüst folgen, das sich in vielerlei Hinsicht ähnelt. Auf keinen Fall ist sie ordinär. Bei den Texten der Spielleute magst du vielleicht Recht haben, aber bei der Musik irrst du mit Sicherheit.«
»Du willst es einfach nicht begreifen, oder? Deine Leistungen sind gut, weil der Gehörnte es so will. Es ist nichts weiter als eine gerisseneTaktik, um dir und mir vorzugaukeln, dass alles in Ordnung ist. Aber ich lasse mich nicht länger täuschen.« Ulrich rückte von der Brust des Freundes ab und wälzte sich auf den Rücken. »Ich kann nicht zulassen, dass Satan unsere Freundschaft zerstört. Manchmal muss man Dinge tun, die im ersten Moment verräterisch erscheinen, aber einem höheren Zweck dienen - das weiß ich nun.«
»Bitte
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