Der Minnesaenger
freilagen. »Leg dich über den Schulmeisterstuhl!«
Hartmann kam nicht einmal auf die Idee davonzulaufen. Er dachte nur daran, dass seine Blase so voll war und dass er sich nicht besudeln durfte, wenn er die Kontrolle über seinen Körper verlor.
Nachdem er sich quer über der Sitzfläche gelegt hatte, schaufelte sich Ulrich durch den Tunnel seines Umhangs, griff nach seinen Händen und drückte sie auf den Stein. »Ich bin bei dir«, sagte er mit zitternder Stimme. »Hab keine Angst. Bald sind die Dämonen ausgetrieben. Bald wird alles wie früher sein. Nichts kann uns dann noch trennen.«
Hartmann spürte, wie nasskalte Hände seine Schenkel hinabdrückten, so dass die Knie auf den harten Steinboden stießen. Die Lederschnüre sirrten durch die Luft und trafen auf seinen Rücken. Mit einem leisen »Plopp« platzte seine Haut. Der Schmerz war unerträglich und riss ihm den Mund auf, aber er brachte nur ein »Aih« zustande.
»Ich bin bei dir«, schluchzte Ulrich und drückte ihm den Arm gegen die Zähne. »Hier! Beiß hinein. Ich teile deinen Schmerz! Ich weiche nicht von deiner Seite!«
»Mea culpa«, rief der Abt. »Sagt es, erhebt euch von den Schemeln und gesteht eure Sünden. Mea culpa, mea maxima culpa!«
Nach und nach sagten die Zöglinge: »Mea culpa.«
»Lauter«, schrie der Abt. »Sagt es lauter! Ich kann euch nicht hören. Mea culpa, mea maxima culpa!«
Die meisten Zöglinge hatten große Angst vor dem Abt, vor dem Kirchenbann und vor der ewigen Verdammnis. So schrien sie aus Leibeskräften: »Mea culpa, mea maxima culpal«
Nach jedem Streich schoben sich Bilder vor Hartmanns
geistiges Auge: der Flug des Falken, die Familie am Tisch der Adlerburg und Judith in einem Leinenkleid vor der Kapelle. Wenn die Eisenkugeln erneut sein Fleisch zerfetzten, lösten sich die Bilder für Augenblicke auf, um mit noch größerer Schärfe und Klarheit aufzusteigen. »Blixa ist kein Sendbote des Teufels!«, murmelte er und spürte, wie seine Kräfte schwanden. Schwerelos trieb er auf einen Ort zu, wo es noch stiller war als unter der Wasseroberfläche, wo ihn niemand mehr bestrafen konnte, wo die Dunkelheit ihn umarmte wie ein lieber Freund...
7.
Wann immer Judith sich von ihren Pflichten lossagen konnte, eilte sie hinunter zum Bach und setzte sich auf einen überhängenden Ast, um Ausschau zu halten. In der Zeit um Ostern herrschte reger Verkehr und Händler, Spielleute und Wanderprediger zogen durchs Hexental. Näherte sich ein Reisender, überwand Judith ihre Scheu und fragte ihn, ob er einen Knaben mit bunten Bändern am Bündel gesehen hätte. Ein Schwertschlucker winkte sie heran, flüsterte ihr schmutzige Worte ins Ohr und wollte sie in die Büsche zerren. Ein alter Zuckerhändler mit Kugelbauch erstattete ihr erst Auskunft, nachdem sie ihm erlaubt hatte, ihre Brüste anzufassen. Mit jedem Tag, mit jeder abschlägigen Antwort schwand ihre Hoffnung, und bald musste sie einsehen, dass sie sich Illusionen hingegeben hatte. Hartmann würde nicht kommen. Wahrscheinlich hatte er Wichtigeres zu tun, als ein Versprechen zu halten, das er vor über einem Jahr der Tochter eines Hörigen gegeben hatte.
Judith war verzweifelt und sträubte sich gegen die Heirat mit dem freien Bauern, aber wohin sollte sie fliehen? Wovon sollte sie sich in der Fremde ernähren? Fern von Aue würde der erstbeste Wegelagerer sie zur Hure machen. Und wenn sie erst einmal entehrt war, würden andere kommen. Schutzlos wäre sie der Willkür der Männer ausgeliefert und am Ende würde sie zugrunde gehen.
Nur in der Dorfgemeinschaft gab es Menschen, die sich für sie interessierten und ihr in der Not beistanden. Seitdem ihre Mutter August von den Vorfällen berichtet hatte, machte der Schäfer tatsächlich einen großen Bogen um sie. Ja, vielleicht hatte ihre Mutter Recht, wenn sie sagte, dass nur die Ehe einem Mädchen ausreichenden Schutz bot, um vor gewaltsamen Übergriffen gefeit zu sein.
Ihre Mutter hatte sie ihr ganzes Leben behütet. Sie hatte sich immer auf sie verlassen können und war niemals enttäuscht worden. Vielleicht sollte sie einfach mehr Vertrauen aufbringen. Vielleicht würde alles gut werden. Vielleicht konnte sie den richtigen Weg in ihrer jugendlichen Beschränktheit nur nicht erkennen.
Schweren Herzens entschloss sie sich, den Widerstand aufzugeben. Sie wollte nicht länger grübeln - weder über Hartmann noch über August noch über die Zukunft. Sie wollte nur, dass alles schnell vorüber war, und stürzte
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