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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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mich verstanden, mein Sohn? Ich sagte, dass du vor meinen Stuhl treten sollst!«
    Hartmann stand auf und trat vor den Abt hin. Was würde ein Falke in meiner Lage wohl tun?, fragte er sich. Er wäre gar nicht hier. Er verweilt nirgends, wo ihm Gefahr droht. Längst wäre er davongeflogen.
    Der Abt wies den Hilfslehrer an, die Harfe aus dem Wollsack zu ziehen. »Ist das dein Instrument?«
    »Ja, Vater!«
    »Du gibst es sogar zu?«
    »Ein Spielmann hat sie mir geschenkt. Das war sehr großzügig von ihm. Ich glaube nicht, dass er...«
    »Genug! Du sollst nur sprechen, wenn du gefragt wirst. Heute gibt es Kleriker, die behaupten: ›Faciunt solacia ho minibus in aegritudinibus suis vel in angustiis suis. ‹ Des Abendmahls würdig sind allein jene Spielleute, die von Heldentaten der Fürsten oder Wundern der Heiligen singen und damit die Menschen trösten und ihnen in ihren Ängsten beistehen. Diese Sichtweise ist viel zu milde, denn auch heute gelten noch die Lehren Boethius’. Die musica ist ein Gegenstand geistlicher Gelehrsamkeit und hat nichts mit dem Schaffen der Spielleute zu tun, selbst wenn sie irgendwo die Geschichte eines Heiligen aufschnappen. Der geistliche musicus kann die Neumen lesen, er ist ein litterati . Der andere produziert Musik nur, aber wer etwas tut, ohne es
zu begreifen, ist ein unwissendes Tier.« Der Abt deutete auf die Harfe. »Dieses Instrument ging durch die Hände von Unwissenden; es ist unrein und ich werde es nach Beendigung des Schülerkapitels verbrennen.«
    »Nein«, rief Hartmann, »das dürft Ihr nicht tun!«
    »Das ist ja interessant! Jetzt willst du mir auch noch Vorschriften machen, was? Ist es wahr, dass euer Schulmeister euch schon vor Jahren untersagte, der Musik der Spielleute zuzuhören, um eure unsterblichen Seelen nicht in Gefahr zu bringen?«
    »Das ist richtig, Vater!«
    »Ist es wahr, dass du den Liedern trotzdem Gehör geschenkt und sie gar selbst gesungen hast?«
    »Ja, Vater!«
    »Bereust du deine Sünden?«
    »Ich habe lange über die Musik, ihren Aufbau und ihre Auswirkungen auf das Gemüt des Menschen nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass...«
    »Zum letzten Mal: Du sollst nur auf meine Fragen antworten. Bereust du deine Sünden?«
    Hartmann wusste, dass die Befragung des Abtes nur zur Demonstration seiner Macht diente. Selbst wenn er sich eine Notlüge einfallen ließe, würde sie ihn nicht retten. Die Bestrafung würde er so oder so erhalten. »Ich bereue es nicht, auf der Harfe gespielt zu haben. Die Musik hat mich immer glücklich gemacht.«
    »Sodann«, murmelte der Abt zufrieden. »Schon bei deiner Aufnahme hegte ich die Befürchtung, dass Erziehung und Unterricht bei dir verschwendet sein könnten. Dein Vater ist ein tapferer Krieger, aber auch dieser Umstand ändert nichts an deinem Stammbaum. Wo niedrige Instinkte
das Blut verseuchen, hat es der Geist schwer, in die Nähe Gottes aufzusteigen. Aber ich gebe dich nicht auf. Ich will nichts unversucht lassen, um dich vor der Hölle zu retten. Deshalb höre meinen Spruch: Durch deinen Undgehorsam hast du nicht nur deinem Schulmeister und mir zuwidergehandelt, sondern Jesu Christi, Gottes eingeborenem Sohn, selbst. Satan hat von deiner Seele Besitz ergriffen. Gegen eine solche Krankheit hilft nur ein Kraut: ›Traditum eiusmodi hominem in interitum carnis, ut spiritus salvus sit in diem Domini‹ Ein solcher Mensch muss der Geißelung des Fleisches überantwortet werden, damit seine Seele am Tag des Jüngsten Gerichts errettet wird.«
    Der Abt erhob sich vom Schulmeisterstuhl. Auf sein Zeichen hin legte der Hilfslehrer die Harfe beiseite und trat mit Jean de Reims vor. Beide Männer packten den Knaben.
    »Vater«, rief Ulrich. »Was ist mit mir? Auch ich habe schwer gesündigt. Auch ich muss gegeißelt werden.«
    »Ich weiß um deine Not«, sagte der Abt, »aber du kannst beruhigt sein. In einer schwierigen Situation hast du dich für Gott entschieden. Deinen Mitschülern sollst du als gutes Beispiel vorangehen. Sie sollen dir in Tat und Gesinnung folgen. Die Buße sei dir erlassen.«
    »Nein! Bitte nicht, Vater. Ich bin ein Sünder. Ich bin nicht besser und nicht schlechter als Hartmann. Ich...«
    »Genug!« befahl der Abt. »Während Hartmann gegeißelt wird, sollst du ihn halten, damit er den Atem seines Retters spürt.« Er wandte sich an Jean de Reims: »Ihr könnt jetzt anfangen.«
    Der Schulmeister zog Hartmann den Wollumhang über den Kopf, so dass sein Gesäß und der Rücken

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