Der Minus-Mann
Er spricht schnell, starrt vor sich auf den Tisch.
»Ich will gar nichts, wir haben nächtelang gesprochen, ich habe ihn gebeten, weißt du, was er sagte, ›wenn du dich selbst erhalten kannst, hast du ein Recht auf eine eigene Meinung, bis dorthin bestimme ich und du hast zu gehorchen, ohne Widerspruch‹.
Er ist ein Schwein, ein Schwein – »Wo warst du bis heute‹, sagt er, »im Dreck, und anscheinend hast du dich wohl gefühlt, aus allen Schulen warfen sie dich hinaus, wegen der Mädchen, mit Zwölf der Raubüberfall. Weitere Mädchen, mit Dreizehn warst du in der Schule besoffen – und das Wochen hindurch. Immer wieder habe ich dir geholfen, wir haben andere Schulen gesucht, was war, wieder den Mädchen schmierig, dreckig unter die Röcke greifen, dann hast du eingebrochen, warst eingesperrt. Ich habe den Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen können, so habe ich mich für dich geschämt, und Mutter – ihre Krankheit verdankt sie dir. Dann wollten wir dir deinen Wunsch mit der Seefahrtsschule erfüllen, ich kann nichts dafür, daß der Staatsanwalt Berufung gemacht hat und man dich wieder einsperren wollte. Immer hast du es geschafft, jede Hilfe von uns in einen Schaden für dich umzukehren, man müßte dich totprügeln. Dir die Hände abhacken, wenn du damit nichts fertig bringst.«
»Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, begreifst du?« sagt er und trinkt. Er spricht wie im Fieber, beachtet die Frau nicht.
»Vielleicht hat er recht, vielleicht tauge ich wirklich nichts, aber warum kann ich dann nicht auf meine Art vor die Hunde gehen? Ich habe Wochen allein gearbeitet, verdient, dann kam er mit seinem ›ganz anständig, aber jetzt ans Studium. Tankwart ist sicher ein ehrenwerter Beruf, aber mein einziger Sohn als Tankwart, wirf den Fetzen weg und verzichte auf das Trinkgeld, du hast anderes zu tun‹. Ich mußte zuhören, was geworden wäre, wenn ›Unser Führer‹ gegen dieses Drecksgesindel gewonnen hätte, Schlachten, Feldzüge, Eroberungen und er: ›Einmal hätte mir der Führer beinahe die Hand geschüttelt‹, und die Stimme brach ihm vor Ergriffenheit. Er, der Held … ›ich hatte keine Munition mehr, aber es war klar, ich musste sie töten … ich schoß ihnen Leuchtkugeln in den Körper … es hatte minus vierzig Grad, aber der Eindruck war herzerwärmend!‹ … acht Jahre war ich alt, und er erzählte, sein Gesicht glühte, und ich schlief am Tisch ein, dann bekam ich eine Ohrfeige, und weiter ging’s mit den Gröfaz-Geschichten … ›laß dich mit einer Jüdin ein, und ich brech dir die Knochen‹ … sagte er vorigen Sommer … er spielt Mutter aus, und sie merkt es nicht einmal … ›warum weint deine Mutter‹, fragt er, heuchlerisch und höhnisch.
Ja, es stimmt, sie warfen mich aus jeder Schule und aus den Internaten … wegen der Mädchen, auch richtig. Aber glaubst du, dass er bis heute mit mir auch nur ein Wort über das andere Geschlecht gesprochen hätte, außer in wegwerfendem, angeekeltem Ton, und dann nur Phrasen und harte Sprüche … ›leg dich nur mit einer Frau ins Bett, mit der du am nächsten Tag über die Straße gehen würdest‹ … der Merksatz, den er mir für die Frauen vermittelt hat. Als er erfuhr, daß ich 1960 in Paris sechs Monate in Einzelhaft war, sagte er zum Psychologen … ›das beeindruckt ihn nicht‹ … und als ich zurück kam, mußte ich tags darauf wieder ins Gefängnis, um die Reststrafe fertigzumachen, sechs Monate, keine Affäre. Als ich mit Zwölf den Raubüberfall machte, traf ihn fast der Schlag, aber nach zwei Tagen war es für ihn überwunden, und ich saß im Erziehungsheim zwischen Schwulen und sadistischen Erziehern. Er hat sich im Laufe der Jahre oft die Hände gewaschen …. ihn trifft keine Schuld, ihn nicht …«, sagt er und schweigt dann erschöpft.
Sie wendet ihre Augen nicht von ihm, während die Worte auf sie niederprasseln. Saugt die Worte in sich ein. Vieles ist ihr unverständlich. Befreit ihn dieser Ausbruch? Er läßt die Schultern sinken. Seine Augen glänzen, auf einmal ist seine Stimme tot.
»Verzeih, daß ich mit dem alten Dreck komme«, sagt er.
»Ich glaub, du hast gar nicht mit mir gesprochen. Was ist mit dem Mädchen, von dem die Leute reden?« sagt sie. »Das ist eine alte Geschichte. Ich war im Vorjahr einige Monate in Zürich, die ersten Wochen habe ich bei einer Lebensmittelfirma gearbeitet, dann habe ich ein Mädchen kennengelernt und von ihr gelebt. Der Alte hat das erfahren. Er wurde
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