Der Minus-Mann
Stammelei mündet in Worten:
»Ich habe dich gefunden … ich liebe dich …«, sagt sie leise in seine Armbeuge. Er raucht, sieht zum Fenster hinaus. Die schräge Sonne legt einen schmalen, goldfarbenen Rand auf die Dachkanten der Glockentürme des Domes.
»Du bist nicht da«, sagt sie und sieht ihn an. Dann sieht sie zu, wie er sich ankleidet. Sie weint. Er zieht sie zu sich, seine Augen sind sehr dunkel, die Falte gerade tief in die Stirne gegraben. Sie klammert die Hände um seinen Nacken. Behutsam löst er sich und geht aus dem Zimmer.
Er geht durch die Gasse. Das Mädchen ruft ihm nach, ohne den Kopf zu wenden verschwindet er am Platz. Später geht er durch den Park, zerpflückt gelbe Blüten zwischen den Fingern und starrt auf die fetten Goldfische in einem trüben Teich. Dann sitzt er in einer dunklen Bar neben dem Bahnhof, blättert in alten Journalen und wartet auf den Abend.
Er geht zum Bahnhof. Der warme Wind zerrt an seinem Haar. Am Schalter kauft er eine Karte nach Sauerbrunn, dem Ort, wo er mit seinen Eltern wohnt. Er geht in das Bahnhofsrestaurant, setzt sich an einen Tisch und sieht auf den Bahnhofsplatz. Dann bestellt er ein Glas Wein. Er trinkt ein zweites, bezahlt und geht durch die Halle zum Bahnsteig. Er besteigt einen Waggon des Zuges, der kurz darauf die Station verläßt. Es ist 21 Uhr 55 Minuten. Um 22 Uhr 25 Minuten verläßt der Junge den Zug. Er ist der einzige, der in der Station des Ortes aussteigt.
Er geht durch das Bahnhofsgebäude und verschwindet in der Dunkelheit. Er geht am kleinen Gedenkmai für die Gefallenen beider Weltkriege vorbei.
Karin hört einen Stein gegen ihr Fenster knallen. Sie öffnet einen Flügel und sieht im Licht der Straßenlaterne den Jungen auf der Straße stehen.
»Läßt du mich herein?« fragt er. Sie kennt den jungen Mann seit drei Wochen, manchmal schlafen sie miteinander. Sie zieht einen Schlafrock an und geht, um ihm zu öffnen.
»Was bringt dich so spät?« fragt sie und küßt ihn.
»Ich wollte mit dir reden, aber ich habe vergessen worüber, ich wußte es genau, aber … es ist mir entfallen«, sagt er. Sie läßt ihn eintreten und holt ein zweites Glas aus dem Wandschrank, dann schenkt sie aus einer Flasche Rotwein ein. Er steht neben dem Fenster, sieht auf die Straße und schweigt.
»Sehr gesprächig bis du ja nicht, gab es wieder Stunk mit deinem Vater, bis du deshalb deprimiert, komm’, leg dich her …«, sagt sie Sie ist vierunddreißig. Sie verbringt ihren Urlaub in dem kleinen Ort und sie kennt auch den Vater des Jungen. Er macht ihr den Hof. Der Junge weiß das, manchmal spricht er mit ihr darüber. Er spricht auch darüber, wie schlecht er sich mit seinem Vater versteht. Die Frau weiß, daß der Junge seinen Vater haßt. Nie aber spricht der Junge darüber, warum dies so ist.
Er läßt sich rückwärts auf das breite Bett fallen und legt seinen Kopf der Frau auf den Schoß. Ihre Hände liegen auf seiner Stirn. Sie streichelt darüber, versucht die scharfe Falte zwischen den Brauen zu glätten.
»Zieh dich aus, bleib hier«, sagt sie und schiebt den Schirm über die Lampe. Sie spürt, daß sich sein Gesicht langsam entspannt. »Ich bringe ihn um«, sagt er leise.
»Und dann sperrt man dich zehn Jahre ein.«
»Ich weiß. Aber von uns beiden ist einer zuviel.«
»Zieh dich an, wir gehen irgendwohin, ich möchte Leute sehen und trinken und lachen und mich unterhalten«, sagt er und richtet sich auf. Sie sieht auf sein Gesicht, während er spricht. In der Dunkelheit sieht sie nur, daß seine Lippen sich bewegen. Die Finger seiner rechten Hand klopfen unruhig gegen die Bettdecke. »Gut, ich ziehe mich an und komm’ mit dir.« Sie zieht das Nachthemd über die Schultern. Er beugt sich vor und küßt ihre Brüste.
Sie stößt leicht seine Schultern zurück.
»Wenn du damit beginnst, werden wir nie fertig«, sagt sie und drückt seinen Kopf gegen ihre Brust. Er küßt langsam die Rundungen entlang, dann den vollen Haarbusch über der Spalte, dann nimmt er seine Zigaretten und geht wieder zum Fenster.
»Hast du Lust darauf?« fragt er sie.
»Ja, aber bitte nicht jetzt, Liebster, du brauchst nichts zu beweisen, ich liebe dich, auch wenn es dir egal ist, wenn ich so vieles älter bin …«, sagt sie.
»Schläfst du mit mir?« Sie hält in der Bewegung inne, geht zu ihm. Er legt seine Hände um ihre Wangen, ihr Gesicht liegt in der Schale seiner Hände.
»Ist er so zärtlich wie ich?« Seine Augen sind weit geöffnet. Sie sind
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