Der Minus-Mann
rauche. Einer räkelt sich am Bett, gähnt mit aufgerissenem Mund, verfaulten, braunen Zähnen. Er rülpst, dreht sich aus dem Bett, geht zum Spiegel und betrachtet sich blinzelnd. Er bohrt in der Nase, dann besieht er sich den Rotz und steckt ihn in den Mund. Er schluckt, furzt laut, dann geht er hinter den Paravent. Er pinkelt, betätigt die Spülung und hustet. Dann geht er zu seinem Wandkasten, furzt wieder, nimmt eine Flasche mit Haarwasser und geht zum Spiegel. Er schüttet etwas von der gelben Flüssigkeit in seine Hand und massiert es dann mit beiden Händen in die Kopfhaut. Dann frisiert er sich. Seine Bewegungen sind abgezirkelt, vom Kämmen bis zum Zurechtdrücken der Stirnlocke. Ich schaue ihm zu.
Um sechzehn Uhr Abendessen. Kohlrüben, warm, braungrau und holzig. Ich streiche mir ein Schmalzbrot, dann noch eines. Drei spielen Karten, der vierte liest. Ich gehe auf und ab.
Fünf Schritte in jede Richtung.
Der Abend zieht sich. Gelbkreuzatmosphäre. Lähmende Unbewegtheit in den Gesichtern, daneben ruheloses Spiel der Hände, mit Karten, Briefen, Zigaretten, miteinander. Einer pfeift, es ist neunzehn Uhr. Er redet von seiner Haftprüfung. Ein Richtersenat überprüft die Zulässigkeit seiner Untersuchungshaft. Er ist vor neun Jahren nach Australien ausgewandert, jetzt kam er auf Urlaub. Am Flughafen wurde er verhaftet.
»Se hom domois an Führaschein gföscht«, sagte man ihm. Er rechnet mit seiner Freilassung. Ein anderer hat morgen Verhandlung. Zuhälterei, Erpressung, Raufhandel. Er rechnet mit zehn Monaten.
»Daun wa i im Summa wieda draustn«, sagt er und preßt die Fingerknöchel gegen die Tischplatte, er hofft.
Und ich, was hoffe ich? Spontan, aus dem Jetzt gefragt, hoffe ich nichts. Gewartet, ja, gewartet habe ich. Auf deinen Brief. Nun wurde alles einfach, es fiel zu Boden, ging kaputt. Der Abend ist alt, das Gespräch bei den Frauen gelandet. Ich gehe von der Türe zum Fenster. Bin müde, vielleicht nur des Gefängnisses wegen. Zweitausend Schritte, dann langt es mir. Waschen, ich lege mich auf das Bett.
Was nachher, sie sprechen wieder darüber. Einer, er war Matrose, möchte nach der Entlassung anheuern. Er erzählt eine lange Geschichte, Rangoon, Valparaiso, zuerst von der Arbeit, dann nur mehr von den Kneipen, den Huren. Viele Seemeilen Worte, ich schlafe ein. Wenige Tage später werde ich verlegt.
E-Trakt – erster Stock, Zelle 81. Ich packe meine Sachen, ziehe um. In der Gemeinschaftshaft gibt es keine Schreiberlaubnis. Ich habe angesucht, jetzt wurde sie bewilligt, vom Untersuchungsrichter und vom Leiter des Gefangenenhauses. E-Trakt – sieben Quadratmeter Zelle – drei Leute leben aneinander, übereinander, gegeneinander – nebeneinander ist nicht durchführbar, ich versuche es täglich, es ist unmöglich. Drei Betten sind im Raum. Eines unter dem Fenster. Das zweite, ein Klappbett, an der Längswand. Das dritte, ein Campingbett, untertags zwischen Heizung und Türe deponiert. An der zweiten Längswand ein Klapptisch, groß wie eine Aktenmappe, darunter ein Klappbrett als Hocker. Einer kann auf diesem nicht bequem essen, zwei sollten es, nein, drei müssen es. Laut Gesetz ist die Benutzung der Lagerstätten untertags nicht gestattet. Wo die beiden anderen essen, bleibt ihnen überlassen, am Boden. Rechts, neben dem Eingang, ist die Klosettmuschel, daneben das winzige Waschbecken. Das Fenster ist schmal und in zwei Meter Höhe. Ein offenes Brettergestell hängt an der Wand, für Lebensmittel, Toilettesachen, Bücher und dergleichen. Ein Hocker vervollständigt die Einrichtung.
Eine schrille Glocke bohrt sich in meinen Schlaf. Sechs Uhr früh. ›Ihr könnt mich mal‹, ich drehe mich wieder zur Wand. Georg kriecht aus dem Campingbett, beugt sich über meines und gibt dem Fenster einen Stoß. Es ist eiskalt. Dann klappt er seine Freizeitliege zusammen und verstaut sie hinter den drei Heizungsrippen. Er legt Decken und Leintücher zusammen und wäscht sich. Walter steht als zweiter auf, baut sein Bett und klappt es hoch. Jetzt können sich die beiden einigermaßen bewegen. Ein Beamter trommelt gegen die Türe.
»Gemma, aufstehn, da dritte do hintn«, schreit er.
»Leck uns amOasch«, sagt Walter. Der Beamte tobt und verzieht sich dann. Ich krieche aus dem Bett, falte Laken und Decken. Die Fünfundzwanzig-Watt-Funzel’ streut gelbliches Licht an die Wände.
Um sieben Uhr gibt es Kaffee. Walter nimmt die drei verbeulten Blechbecher und hält sie dem Hausarbeiter hin. Der
Weitere Kostenlose Bücher