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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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Beamte erkundigt sich, ob wir Eingabebogen oder Wunschzettel brauchen.
    »Zwa Wunschzettln«, sagt Walter. Der Schreiber hinter dem Beamten notiert das auf einer Liste und gibt uns einen Kugelschreiber und zwei Zettel.
    Nach dem Kaffee – mittelwarmes, bräunliches Wasser – beginnen die Turns der Spaziergänge. Bewegung im Freien; zwanzig Minuten im Betonkreis. Durchmesser fünf Meter. Mit dreißig Menschen gehe ich im Kreis.
    Im Glaskasten, einen Meter über den Köpfen der Gehenden, hockt der Beamte. Jeder redet von seinem Fall, wochen-, monate-, manchmal jahrelang. Von Anwälten und Urteilen. Der Spazierhof ist die Nachrichtenbörse, kleine Geschäfte werden gemacht. Lesematerial getauscht.
    Walter hat einen Bankraub. Sein Komplize sitzt einen Stock höher auf der anderen Seite des E-Traktes. Walter hat sich selbst gestellt. Er rechnet mit acht Jahren. Georg hat zwei Jahre wegen Veruntreuung. Er hat gegen das Urteil Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt.
    »Ich bin unschuldig, das war eine Gemeinheit, ich kann meine Unschuld beweisen, ihr werdet sehen. Die Bestätigung, daß ich das Geld zurückgezahlt habe, muß auftauchen«, sagt er.
    Georg ist zum erstenmal in Haft. Immer wieder beteuert er seine Unschuld. Wiederholt die gleichen Sätze, als wäre es ihm wichtig, daß Walter und ich ihm glauben. Er spricht mit hoher, weinerlicher Stimme. Er ist der Älteste von uns. Er ist vierunddreißig. Gegen elf gibt es das Mittagessen. In zerbeultem Blechgeschirr.
     
    Knast 1974, Suppe, Gemüse, Fleisch, Wurst – manchmal auch Fleisch und Salat, oder eine Mehlspeise, Grießschmarrn, z. B. mit Kompott. Das Kompott schütten sie in den Becher. Es gibt viel Ragout, viel Haschee, wenig Stückfleisch – da ist der Schwund zu auffällig. Das Fleisch hat im Gefängnis die sonderbarsten Eigenschaften, von Rindfleisch verkocht sich bis zu achtzig Prozent, ob die Kühe vielleicht aufgepumpt waren, denn, »Gstoin wird bei mia nix«, sagt der fettwangige, triefäugige Küchenchef.
    Auch die Würste sind eigenartig. Sie sind schräg portioniert, ein Stück mißt vom Anfang bis zum Ende zehn und mehr Zentimeter, aber die echte Länge sind vier Zentimeter, und das ist nicht viel. Georg stochert in den Erdäpfeln, dann schüttet er den klebrigen Dreck in den ›Rettich‹, das Klosett.
    »Scheiß di net an, waun di Oide fünf Tog net schreibt, wos bistn du fira Maun«, sagt Walter zu Georg.
    Siebenmal hat er mir den letzten Brief seiner Frau vorgelesen und mich gefragt, was ich davon halte.
    »Sie was doch, daß i des net gmocht hob. Sie muaß doch de poar Monat woatn kenna. Da Bua is so liab, hots beim Besuch da-zöht«, sagt er.
    Seine Augen bitten und winseln. ›Sag, daß alles in Ordnung ist, sag es.‹ Das Kind, die Ehe, das Gemeinsame, es hält manche, andere schaffen das Getrenntsein nicht, das Warten, das Stehen im Gang vor dem Besuchsraum, stundenlang mit Huren und Gleichgültigen, die das jahrelang kennen.
    Sie kommen nicht. Später schreiben sie nicht mehr, der da drinnen wird vergessen. Das Leben spült darüber, Gewissensbisse schluckt man hinunter, zerredet sie. Es gibt viele Möglichkeiten.
    »Da steht groß und deutlich, daß sie dich liebt, was willst du mehr«, sage ich.
    Er strahlt auf, beruhigt für eine Stunde oder zwei, dann ist der nagende Zweifel wieder da. Es geht ihm wie den meisten, die eine Frau da draußen haben. Sie kriechen in die Briefe, zerpflücken Zeilen und Worte, deuten Interpunktionen und Anreden und Rechtschreibfehler, lesen und zweifeln, bis jeder Satz deutlich, bis er in die Träume geschleppt wird.
    Georg ist mit den Nerven total herunter, stöhnt und redet. Manchmal sitzt er stundenlang in der Ecke, die Hände vor den Augen. Er ist anders – erstmalig. Er geht mir auf die Nerven.
    »Hoid amoi de Goschn mit dera Raunzerei, wer is’n auf de Lidanei neigierich«, sagt Walter aufspringend. Georg sackt in seiner Ecke noch mehr in sich zusammen.
    Was sollte ich ihm sagen, daß ein anderer da war, daß sie eine Karte immer hätte schreiben können, daß sie krank ist, daß sie einfach vergißt. Er würde es nicht begreifen.
    Später bauen wir unsere Betten, legen uns hinein und lesen. Die Wand gegenüber ist dreckig, verschmiert. Ich lese Erzählungen aus dem Karawanserail. Wortarabesken legen sich über das Jetzt. Später brennen mir die Augen. Ich stelle einen Hocker auf mein Bett, öffne das Fenster und schaue in den Hof hinunter.
    Die Ratte ist mager und ängstlich. Von hier aus erscheint sie

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