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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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Kater, erscheint, zeichnet gemessen mit dem Schwanz einen Kreis in die Luft und springt auf das rechte Knie des Großvaters. Mich beachtet er nicht, gähnt, zeigt ein rosiges, nadelspitz gezähntes Maul, schließt die Augen und beginnt laut zu schnurren.
    »Hoonsi – auf an Johr geht’s schon«, sagt er mit weichen, gedehnten Worten. Er ist Ungar, spricht auch meistens Ungarisch, aber mir haben weder meine Mutter noch Großvaters zweite Tochter, Tante Gisa, diese Sprache beigebracht. Großvater und ich hatten eine eigene Sprache, ein für andere unverständliches Kauderwelsch. Ungarische und deutsche Brocken vermengt. Er sprach meinen Vornamen nie richtig aus.
    Sein Bein war nach einer Kriegsverletzung im ersten Weltkrieg, als er bei den Honvedhusaren war, steif geblieben. Auch ein Auge hatte er verloren. Sein großer, an den Spitzen hochgedrehter Schnurrbart, seine graue Kutschermütze, die breiten, braunen Hände – ich liebe den alten Mann. Um ihn geschah meine Kindheit. Er hatte das Holzschwert geschnitzt und geleimt und für meinen ersten Indianerkopfschmuck hatte er dem laut protestierenden Hahn die grellsten Federn aus dem Schwanz gezogen.
    Das ist viele Jahre her. Mit fünf holten mich meine Eltern zu sich, dann blieb ich drei Jahre bei ihnen, besuchte die Volksschule und kam dann ins Gymnasium und ins Schülerheim.
    Vor zwei Monaten haben mich meine Eltern aus dem Internat genommen, und vor vier Tagen wurde ich aus der Schule geworfen. Wegen unsittlichen Verhaltens … mit Mädchen.
    Realgymnasium Mattersburg – Herbst 1956 – was war geschehen?
    Eine Professorengruppe hatte sich kriminalistisch betätigt, unzählige Verhöre waren durchgeführt worden. Dritte Klasse – zwanzig Buben und zehn Mädchen – wurden vernommen, auch das Töchterchen des Direktors … ein kleines süßes, blondes Biest, mit züchtig niedergeschlagenen Lidern und wippendem Röckchen kam sie vom Verhör … dann die nächste, eine geile Ziege mit Kulleraugen, dann die, dann der, dann ich.
    Frage: »Hast du ihr auf die Brust, unter den Rock, unter das Höschen gegriffen?«
    Antwort: »Ja.«
    Sie war zwölf, wie ich. Ihre Brust war flach wie ein Brett, den Pullover hat sie selbst gehoben …
    Frage: »Hast du ihr von rückwärts zwischen die Beine gefaßt, die nackte Haut oberhalb der Strümpfe berührt und sie unter dem Höschen gestreichelt? Wenn sie sich gewehrt hätte, hättest du sie schlagen wollen?«
    Antwort: »Ja.«
    Sie war ebenfalls zwölf und gut entwickelt. Sie hatte sich, wenn ich hinter ihr stand, vorgebeugt und die Beine leicht gespreizt – zu bedrohen brauchte ich sie nie.
    Frage: »Hast du dich vor sie hingestellt und ihr dein Glied gezeigt und sie aufgefordert, es zu berühren; als sie nicht wollte, hast du sie dazu gezwungen?«
    Antwort: »Ja.«
    Sie ließ die Hand auch dort und bewegte die Finger vor und zurück.
    Frage: »Hast du sie auf der Mädchentoilette entkleidet, sie aufgefordert, auf die Muschel zu steigen, ihre Brust, ihre Scham geküßt? Hast du sie bedroht, wenn sie dich meldet, sie zu schlagen?«
    Antwort: »Ja.«
    Sie trug ihr Höschen nicht am Körper, sondern in der Schultasche. Sie stand auf der Muschel, die Augen geschlossen, und ihre Hände streichelten in meinem Haar.
    Alle Beteiligten wurden strengstens gemahnt, ich relegiert. Jetzt sprechen meine Eltern wieder davon, mich in ein Internat zu geben. Ich will nicht. Mir haben die drei Jahre bisher gereicht. Große, eisige Schlafsäle, schlechtes Essen, launische Präfekten und sadistische Hilfserzieher.
    Wenig Freizeit, viel Beten und noch mehr Prügel, das waren meine Erinnerungen an die letzten drei Jahre. Meinen Eltern hatte ich davon nie erzählt. Der Vater hätte mich ausgelacht und mir vorgeworfen, ich sei weich und ängstlich, und Mutter – für sie sind Professoren und Erzieher unfehlbare Autoritäten. Ich erzähle dem alten Mann stockend, was geschehen war und was kommen sollte – dann schweigen wir eine Weile. Großvater raucht, er denkt wohl nach. Ein Jahr, meint er, sollte ich wieder versuchen, ein Jahr, ihm zuliebe. Ich nehme seine verarbeitete, schwielige Hand.
    »Ein Jahr lang, ich werde es versuchen.« Er nickt bedächtig.
    Sorgsam greift er der Katze unter den Bauch, stellt sie zu Boden. Er erhebt sich mühsam, greift nach dem dunklen Stock, mit dem er sich beim Gehen hilft. Er geht zur Werkbank, öffnet eine Lade und gibt mir daraus ein Päckchen, umwickelt mit einer Papierserviette. Ich weiß, daß eine Bäckerei

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