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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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übergeben. Der Alte ist steinern und schweigsam. Drei Tage später sitze ich wieder in einer psychiatrischen Beobachtungsstation.
    » Er ist nicht normal«, sagt mein Vater, und Mutter nickt beglückt im Kummer über diesen ehrenwerten Ausgang. Dann wandere ich unter die staatliche Erziehungsknute nach Allensteig. Die Gruppenschwester ist spätjüngferlich und versucht, verdrängte Sexualität in ungeheurem Gerede zu sublimieren.
    »Stell dich in die Ecke, du Schwein, und beruhige dein Glied«, sagt sie zu mir, als ich bei der Badeschwanzkontrolle, ob der Eichel käse auch weggewaschen ist, mit einem erigierten Ast auftauche. Nach dem Abendgebet wichst mir ein kleiner, zarter Schwuler täglich einen ab. Die Nachtschwester sieht aus wie die Medusa, und ich gehe nachts nie pinkeln, ich habe Angst, sie könnte mir vielleicht begegnen. Die männlichen Erzieher machen sich einen Sport daraus, zu testen, wie viele Ohrfeigen ein Zögling aushält, bevor er umfällt. Einer bringt es bis auf neun, und das bleibt lange Rekord, weil sich die Buben vorher zusammenfallen lassen, der mit den neun hat einen Trommelfellriß, das möchte keiner riskieren.
    Mit der Absolvierung der achten Klasse Volksschule beende ich meine schulische Ausbildung, dann verlasse ich Allensteig mit subtilen Kenntnissen über die Methoden staatlich gelenkter Erziehungsstätten.
    Die Ferien verbringe ich bei den Eltern, sogar mein Vater spricht hin und wieder mit mir.
    Der Sommer ist eine weite, sonnenbeschienene Wiese, Mädchen sind darin, weitgeöffnete, frischfarbige Blumen.
    Der Alte versucht ein Aufklärungsgespräch in Gang zu bringen. Ich höre höflich zu, dann verheddert er sich. »Danke, ich weiß Bescheid«, sage ich. Er wird menschlich und schlägt mir verlegen oder erleichtert auf die Schulter.
    »Das Wichtigste im Leben des Menschen ist die Schulbildung«, sagt mein Vater, und ich wandere im Herbst ins Bundeskonvikt nach Hörn zum Besuch der Aufbaumittelschule, fünfjährige Abiturvorbereitung ohne Alterslimit. Innerhalbeiner Wocheschaffe ich es, mit zwei um vier Jahre älteren Leibwächtern als Jüngster die Klasse zu beherrschen. Veronika und Lore heißen der angenehme Tribut, der an mich entrichtet wird. Tausend Schilling Taschengeld, die braunhaarigen Wesen, Tennis und Trinkgelage nachts im Schlafsaal mit Törless’schen Spielchen verbrämt, lassen mir kaum Zeit für die schulischen Anforderungen. Der Klassenvorstand benützt einen meiner aggressiven Verschleierungsversuche.
    »Ich habe das Heft vergessen … na und?«
    Mit einer breit angelegten Vorhaltung aller meiner Disziplinarvergehen, die in meinem Schülerbeschreibungsbogen getreulich festgehalten sind … coram publico.
    Irgendwo reißt bei mir der Faden ab. Ich verschwinde aus Schule und Konvikt und besorge mir durch einen Einbruch wieder fünftausend Schilling. Wenige Tage darauf werde ich verhaftet und ins Gefängnis beim Jugendgerichtshof in Wien eingeliefert. Unter Sechzehn ist Rauchen verboten, und ich verkaufe mein Essen für Zigaretten, bis mir die Knie weich sind und vor lauter Hunger ein Darm den anderen frißt. Ich lerne, mich wirkungsvoll zur Wehr zu setzen, den Tritt in die Eier, meine oftmals vorbestraften Zellenkameraden vermitteln mir ihre Erfahrungen. Lore schreibt mir zärtliche Briefe und ich finde, im Gefängnis ist es auszuhalten.
    Drei Monate später habe ich in Eisenstadt Verhandlung. Sechs Monate bedingt auf drei Jahre ist das Urteil, der Staatsanwalt, haßsprühend und geifernd: »Berufung wegen zu geringer Bestrafung.«
    Bis zur Berufungsverhandlung werde ich entlassen. Ich komme nach Hause, bin für meinen Vater schlechte Luft, Mutter redet im Flüsterton mit mir. Dann stirbt Großvater. Er erkannte mich nicht mehr. Ich sitze an seinem Bett und schaue in das faltige, starre Gesicht. Nach Stunden gehe ich durch den Schnee nach Hause. Meine Schritte knirschen, ich krieche ins Bett und möchte nach langer Zeit wieder ein Kind sein. Und weinen, aber ich kann es nicht mehr.
    Am ersten Januar soll ich nach Hamburg in die Seefahrtsschule, damit könnte man eine Verschärfung der Urteils verhindern. Die Richter stören nicht gerne begonnene Ausbildungen bei Jugendlichen, aber der ärztliche Befund versperrt mir den Weg. ›Leider können wir ihn nicht nehmen‹, stand in dem Brief aus Deutschland.
    Dreißig Stunden später bin ich in Hamburg Blankenese am Falkensteiner Ufer und frage den entgeisterten Leiter der Schule, ob er es nicht doch versuchen möchte.

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