Der Minus-Mann
höre das Geschrei vom Nordflügel. Ich liege in einer Spitalzelle auf West E mit einer Sommergrippe. Man hat mir gute Bücher gegeben. Camus – der Fremde, die kalte, klare Sprache, die Ausweglosigkeit.
Einiges von Hemingway.
Nichts zu rauchen, das Fieber ist gesunken, ein, zwei Tage noch in dem Loch.
Ich bin teilnahmslos, faul. Die dreckigen Eßschalen. Der Beamte, der sich von meinem Tabak Zigaretten dreht, weil er seinem Sohn ein Haus bauen will. Für Zigaretten bleibt ihm kein Geld. Der betrunkene Schreihals mit der Silberplatte am Revers, der sich einen Sport daraus macht, mich andauernd zu filzen. Der glühende Sommer. Der Schwanz hart und bloß zum Pinkeln. Die Eier schwer. Helmut erzählt von seinen Damen.
»… und dann habe ich sie mit kochendheißen Erdäpfeln beworfen, die größten mitten auf die Votze, in diesem Schmerz kam sie dann endlich zum Orgasmus«, sagt er.
Es ist zwei Uhr oder drei Uhr früh. Das Hirn ist aufgepeitscht, hellwach. Irgendwann zerbricht die Glätte der gewählten Sprache, der gepflegten Fingernägel. Stück um Stück bricht in diesen Nächten die Show, blättert die Fassade ab.
»… sie ist weggegangen, einfach weggegangen, aus unserem Haus, ohne den Haufen Kleider, jedes einzelne habe ich ihr ausgesucht. Ohne den Schmuck, jedes Stück habe ich ihr zu einem Anlaß gekauft, für sie habe ich diese ganze Scheiße gemacht, daß sie alles hat, dafür habe ich betrogen, hab’ mit den alten, faltigen, häßlichen Weibern geschlafen, und jetzt hat sie die Kinder genommen und ist mit einem anderen weggegangen, mit einem anderen, verstehst du das, begreifst du das?« stammelt er.
Manche Nächte im Zuchthaus haben hundert Stunden. Diese ist eine davon. Ein hartes, trockenes Schluchzen kommt von seiner Pritsche. Seine Frau war zu Besuch. Sie fährt mit den beiden Kindern nach Südafrika. Mit einem Mann, der immer ›anständig‹ war – der keine vier Jahre Gefängnis vor sich hat. Helmut liebt seine Frau, seine Kinder. Ich glaube ihm. Er zerbricht in diesen Tagen. Sein Gesicht schrumpft, altert erschreckend deutlich. Die Augen flackern, das Bärtchen wird struppig, die Nägel brechen, die Schultern fallen nach vorn.
Ein ohnmächtiger Haß zerfrißt ihn.
»Liebe nie eine Frau, nimm ihnen alles, zerstöre ihre Persönlichkeit, ihre Sicherheit, mach sie dir hörig, isoliere sie, mach sie vollkommen abhängig von dir, dann tritt sie in den Arsch«, sagt er.
Fieberhaft wirft er die Worte in die halbdunkle Zelle.
»Du brauchst sie nie physisch zu quälen. Brich sie auf, mit Zärtlichkeit, mit Verständnis, Mitgefühl … heuchle Liebe und dann nimmst du ihnen die Selbstachtung. Laß sie deine Scheiße fressen, versprich mir das!« sagt er.
Nächtelang beschwört er mich. Tagsüber reden wir nur das Nötigste. Seine Hände zittern. Er starrt Stunden ins Leere, durch Wände und Zeiträume.
»Wähle deine Opfer sorgfältig. Beginne mit den Schwächsten. Nimm Körperbehinderte, oder ganz junge Mädchen«, sagt er und ist wie irre in dem Gedanken, daß ich seinen Haß vollstrecken werde.
Nächtelang höre ich zu, brauche nie etwas zu sagen. Als liefe ein besprochenes Band ab – voll ohnmächtiger Wut und Geifer wider alles Weibliche. Die Tage dazwischen sind kurze, heiße Entfernungen zwischen den Nächten.
Einer hängt am Fensterbalken. Das Gesicht blau, gedunsen. Er ist tot. Eine verquollene Fratze mit dicker Zunge und klebriger Scheiße an den nackten Beinen. Seine Strafzeit: zwanzig Jahre; dreizehn hatte er durchgehalten, jetzt klappte es nicht mehr. Der tägliche Kampf gegen Demütigung und Einengung. Er wollte nicht mehr.
Schurl, der kleine, weißhaarige Lebenslange mit den flatternden Händen, den riesigen, ewig erstaunten Augen und dem wöchentlichen Fasttag und hartem Lager kommt gegen Abend gelaufen. »Kann ich mehr vom Grießkoch haben«, ruft er schon von weitem. Der Beamte bei der Essenausgabe jagt ihn weg. So haben sie alle ihre kleinen Wünsche. Die mit den kurzen oder langen Strafen und die Lebenslänglichen – harmlose Wünsche.
Schurl, der den Grießbrei liebt und der seit neun Jahren Säcke klebt. Gufler, der Max, der Krebs hat, sich das Rauchen abgewöhnt hat, weil es ungesund ist, und der Spinat liebt, weil er gesund ist.
Vinzenz, der Alte, ist topfenstrudelsüchtig, und Franz, das Hausgespenst, der für seinen Ginkers kiloweise Obst, Zucker und Hefe braucht. Sie bestellen beim Hausarbeiter Fisch und Kalbfleisch von der Krankenkost, Rollmops und
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