Der Mittelstürmer: Die Geschichte eines schwulen Profi Fussballers
schärfer. Schließlich nahm er das Bild wahr. Merkwürdigerweise konnte er es aber nicht deuten.
Marc versuchte, sich aufzurichten. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Kopf. Der Schmerz half ihm ein wenig mehr, zu sich zu kommen. Nun nahm er das Bild ganz real wahr. Kokospalmen, Meer und ein kleiner Junge in einem Wollpullover.
Panik erfüllte ihn. War heute nicht der ersehnte Tag? Mit einem Ruck setzte er sich auf und hielt nach seinem Handy Ausschau. Verdammt, wie spät ist es? Er schaute sich um. Ein Berg von Taschen, ein Koffer und, überall verstreut, seine Klamotten.
Vorsichtig tastete er sich ins Bad und trat dort in seine eigene Kotze. Scheiße! Er suchte einen Lappen. Er konnte nicht anders und musste schmunzeln, als er den Boden sauber wischte. Heute war endlich der Tag, auf den er so lange schon gewartet hatte.
Am Vorabend hatten sie den DFB-Pokal gefeiert. Langsam kamen die Erinnerungen zurück. So unwohl wie in der letzten Saison hatte er sich während seiner gesamten Fußballerkarriere noch nicht gefühlt. Derart besoffen wie gestern Abend war er wahrscheinlich noch nie gewesen. Gott sei Dank hatte ihn sein Teamkollege René nach Hause gebracht, obwohl er es hasst, wenn andere Kollegen in seine Wohnung kamen. Sein Blick streifte den Badspiegel, und er erschrak. Sein rotblondes Haar hing fettig in sein fahles Gesicht. Schnell stellte er sich unter die Dusche und ließ heißes Wasser über seinen geschundenen Körper laufen.
Freiheit! Auszeit für seine Zerrungen und Prellungen. Das Wasser weichte seine Gedanken auf. »Soll ich mir noch einen runterholen?«, fragte er sich laut, da hörte er den Weckruf seines Handys. Dieses verdammte kleine Ding! Mit einem Halbständer tappte er aus der Dusche und holte das Gerät aus seiner Hose, die wie eine Leiche im Vorzimmer lag. Er stellte die Weckfunktion aus.
Koh Samui. Heute war der Tag, an dem Marc in seine alte Heimat reiste. Er hatte seine ersten 16 Jahre mit seinen Eltern dort verbracht. Immer wenn er sich an diese Zeit erinnerte, verspürte er ein Gefühl von Geborgenheit. Das Meer, die Sonne, die Art, wie die Menschen miteinander umgingen, all dies war seine wahre Heimat.
Pass, Geldbörse, Tickets, Handy, zwei Taschen. Es läutete. Das Taxi. Draußen schlug ihm ein kühler Wind entgegen. Der Taxifahrer machte keine Anstalten auszusteigen. Marc überlegte, ob er sich ärgern sollte. Fand aber, dass das Wetter dieses Verhalten wohl rechtfertigte. Er setzte sich nach hinten und schloss die Augen. Glücklich und zufrieden mit sich, der Welt und dem, was vor ihm lag.
Da kam von vorne in gebrochenem Deutsch die Frage, ob er nicht Marc Kliff, der Fußballer, sei. Marc befürchtete sofort das Schlimmste. Er wusste, dass er nun keine ruhige Fahrt mehr vor sich hatte. Aber überraschenderweise bat ihn der Fahrer nur um ein Autogramm und gratulierte ihm zur hervorragenden Leistung während der letzten Saison. Danach ließ ihn der Fahrer in Ruhe.
Die Straßen zogen an ihm vorbei, die Sonne ging gerade auf, und er genoss die friedliche Stille um sich herum. Er liebte das Reisen. Schon als Kind hatte er davon nicht genug bekommen können. Er verspürte in Taxis und auf Flughäfen eine innere Ruhe, eine gewisse Ausgeglichenheit, die er so sonst selten verspürte.
Er schloss die Augen und dachte an Thailand. Wie lange war er jetzt schon nicht mehr dort gewesen? Er überlegte. Es waren wirklich schon zehn Jahre vergangen, seit er seine alte Heimat verlassen hatte. Verlassen musste. Er erinnerte sich noch gut daran, als seine Eltern ihm eröffnet hatten, dass sie nach Deutschland zurückziehen würden. Für ihn war damals eine Welt zusammengebrochen. Er hatte nicht aus Thailand weggewollt, hatte seine Freunde und seine Heimat nicht gegen eine unbekannte Fremde eintauschen wollen. Doch welche Wahl hatte er gehabt? Seine Mutter, die damals in Thailand eine große Hotelkette managte, hatte ein besseres Angebot in Deutschland bekommen, und so hatten seine Eltern kurzerhand beschlossen, nach Deutschland zurückzuziehen. Im Nachhinein betrachtet war diese Entscheidung für Marc genau die richtige gewesen. Denn hier in Deutschland hatte er seine Liebe zum Fußball entdeckt und Karriere gemacht. Doch obwohl er schon so lange nicht mehr in Thailand gewesen war, empfand Marc, auch noch nach all den Jahren, eine tiefe Verbundenheit mit seiner alten Heimat.
Das Handy. Irgendwo in seinen Taschen läutete dieses verdammte kleine Ding. Marc durchsuchte nervös all seine
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