Der Mitternachtsdieb: Roman
waren Problemlösungen, und genau deshalb hatte man ihn nach Amerika geschickt.
Als er am ersten Tag morgens in der Fabrik erschienen war, hatte Mr. Tamura sich bei ihm erkundigt, ob er viele Veränderungen vorhabe.
„Das wird sich erst zeigen", hatte er geantwortet.
„Es gibt Leute, die um ihren Arbeitsplatz fürchten."
„Ich bin nicht gekommen", sagte Mr. Yamada, „um Mitarbeiter zu entlassen. Es gibt viele Wege, die Produktivität einer Firma zu verbessern. Ich werde mir alles sorgfältig ansehen und dann entscheiden, was getan werden muß."
Im allgemeinen war er ganz zufrieden damit, wie die Fabrik arbeitete. Aber er sah auch sofort Dinge, die verbesserungsfähig waren, und setzte stetig, nach und nach, Veränderungen durch. Es gab Arbeiter, die langsam oder nicht sorgfältig arbeiteten. Diese wurden entlassen. Andere hingegen zeigten sich als sehr fleißig und geschickt, und sie wurden befördert oder bekamen mehr Lohn. Auf diese Weise waren die Mitarbeiter der Fabrik alle sehr einverstanden mit Mr. Yamada. Zu Hause gestand er Keiko: „Ich hatte eigentlich befürchtet, daß das Leben in Amerika sehr schwierig würde. Aber es ist ganz leicht. Es ist sogar, ehrlich gesagt! wie ein guter Traum." Er konnte nicht ahnen, daß dieser Traum bald zu einem Alptraum werden würde.
Es geschah am nächsten Freitag um Mitternacht. Die Familie war zum Essen in einem japanischen Restaurant gewesen. Es gefiel ihnen, daß sie Gelegenheit zu heimischem Essen mit gewohnten Speisen hatten - Sushi und Tempura-Shrimps und Sukiyaki. Und sie konnten mit dem Besitzer des Restaurants japanisch reden, und so war alles sehr angenehm.
Zu Hause war es für sie ohnehin einfacher und leichter, japanisch zu sprechen als englisch. Allerdings sagte ihr Vater auch immer wieder: „Die einzig richtige Art, eine Sprache zu lernen, ist, daß man sie spricht. Also müssen wir auch miteinander englisch sprechen."
Nach dem japanischen Restaurant gingen sie noch auf der prächtigen Fifth Avenue ein wenig spazieren und betrachteten sich die schönen Schaufensterauslagen der Geschäfte. Da gab es Kaufhäuser wie Saks und Bergdorf Goodman und berühmte Geschäfte wie Tiffany und viele andere.
„Die Kaufhäuser in Tokio sind aber größer", sagte Keiko, und da hatte sie sogar recht.
In Japan waren die Kaufhäuser wirklich riesig. In einigen konnte man selbst Boote und Autos kaufen, Lebensversicherungen abschließen oder Beerdigungen bestellen. Jede Art Dienstleistung wurde dort angeboten. Das war bei den New Yorker Kaufhäusern anders. Deren Angebot war begrenzter.
Als die Kinder müde wurden, fuhr Mr. Yamada seine Familie im Taxi nach Hause.
Es war ein langer Tag für sie alle gewesen, und so waren sie bald im Bett und eingeschlafen. Alles war ganz still.
Um Mitternacht erwachte Mitsue von einem leisen Stöhnen.
Sie machte die Augen auf und glaubte, sie habe geträumt. Dann
hörte sie es wieder. Jemand war in ihrem Zimmer!
„Wer ist da?" rief sie.
Keine Antwort.
„Wer ist da?"
Und dann sah sie es. Die Gestalt eines weißgekleideten Mädchens kam auf sie zu. An ihrem Kleid war Blut. „Hilf mir", sagte das Mädchen, „hilf mir!"
Doch gleich darauf hatte die Erscheinung sich wieder in Luft aufgelöst.
4. KAPITEL
Mitsue konnte nicht mehr einschlafen. Sie vergrub sich den Rest der Nacht verschreckt in ihrem Bett. Noch nie hatte sie einen Geist gesehen. Aber war es ein Geist? Oder nur ein. Traum? Nein, dachte sie, das war viel zu wirklich, als daß es ein Traum hätte sein können.
Noch immer klangen ihr die Worte des Geistes in den Ohren. „Hilf mir, hilf mir!" Was bedeutete das? Schließlich nahm sie allen Mut zusammen, huschte aus dem Bett, stellte einen Stuhl vor die Tür und sprang eiligst wieder zurück ins Bett. Jetzt kann der Geist nicht mehr herein, dachte sie.
Beim Frühstück am Morgen fragte Takesh Yamada die Kinder, wie sie geschlafen hätten.
„Ich bin kein einziges Mal aufgewacht", prahlte Kenji. „Mein Bett ist ganz toll."
Mitsue aber war merkwürdig schweigsam und erschien ihrem
Vater auch ziemlich blaß.
„Hast du nicht gut geschlafen, Mitsue?"
„Ich... ich...", stotterte Mitsue. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Wahrscheinlich würde sie nur ausgelacht, glaubte sie, wenn sie die Wahrheit erzählte. Aber dann sagte sie doch: „In meinem Zimmer war ein Mädchen." Ihr Vater lächelte. „Na ja, sicher."
„Nein", sagte Mitsue, „ich meine nicht mich selbst. Ich habe einen Geist gesehen."
Ihr
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