Der Moderne Knigge
jedem Abend trägt er aus Schillers Demetrius vor, und es ist doch interessant, dahinter zu kommen, wer es länger aushält: Strakosch oder Demetrius. Ich glaube Strakosch, kann mich aber auch nicht irren.
Es giebt zwei Arten von Vorlesungen. Sie werden entweder von dem ebengenannten Vortragsmeister und von Mitgliedern der Bühne, welche außer dem Hause arbeiten lassen, oder von Schriftstellern gehalten, welche ihre eigenen Arbeiten vortragen. Man ziehe die Vorlesungen der letzteren vor, weil diese natürlich mehr Gelegenheit, einen Tadel anzubringen, darbieten. Hört man schlecht, so tadelt man das Organ, hört man gut, die litterarische Arbeit.
Will man dem vorlesenden Schriftsteller nicht wohl, so braucht man nur an wichtigen Stellen zu niesen oder zu husten, um ihm die Wirkung zu verderben. Ist man ihm zugethan und erkältet, so bleibt man draußen. Dies macht wenig Mühe.
Ist man ein in den weitesten Kreisen bekannter und geschätzter Schriftsteller, so bestrebe man sich, den Eindruck der größten Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit und Naivetät zu machen, besonders wenn man diese drei schönen Eigenschaften nicht besitzt. Man besitze sie auch nicht, weil das Publikum ja doch nicht an sie glaubt.
Trinkt man gern einen Cognac, so stelle man trotzdem ein Glas Wasser vor sich hin, mache aber keinen Gebrauch davon.
Ist man Vorleser und schläft ein Zuhörer ein, so bedauere man ihn, weil ihm ein großer Genuß verloren gehe. Keinesfalls schreibe man den Schlaf dem zu, was man vorträgt. Bei einem anderen Vorleser beneidet man den Schläfer und schiebt die Schuld dem Vorleser in die Schuhe.
Hat der Schriftsteller einen großen Teil seines Vortrages beendet, ohne daß ein Zeichen des Beifalls die nötige Ruhe unterbrach, so erkläre er in der Pause, er habe gewußt, daß das Publikum für sein Werk nicht reif sei, auch wenn das Publikum das gebildetste ist.
Bezahlt man für den Platz eine Mark, so rechne man: für die Unterhaltung zehn, für Wärme dreißig, für Beleuchtung zwanzig, als Beitrag zu den Kosten fünfzehn, zu viel bezahlt fünfundzwanzig Pfennig. Höchstens bringe man noch zehn Pfennig für den Anblick vieler Frauen und Mädchen in Anrechnung, sodaß dann noch fünfzehn Pfennig aus dem Fenster geworfen sind, wenn man die Garderobe nicht abgegeben, sondern mit in den Saal genommen hat.
Ist der Vorleser ein realistischer Schriftsteller und sagt unverblümt, was man in Gesellschaft nicht sagen darf, so haben die Damen Entrüstung zu äußern, namentlich wenn sie vorher wußten, daß dergleichen zu erwarten war.
Auch für den Besuch von
Kunstausstellungen und Gemäldegalerieen
sind einige Ratschläge nicht als überflüssig zu bezeichnen.
Tritt man vor ein Gemälde, so blicke man zuvörderst in die rechte Ecke desselben, indem man sich dahin bückt, um den Namen des Malers zu entziffern. Man interessiert sich gar nicht für ihn, aber es ist so allgemein gebräuchlich.
Sieht man ein Porträt, so sage man: Sehr ähnlich! auch wenn man das Original nicht kennt. Man deutet nur damit an, daß man Menschen kennt, die sich malen lassen können. Anders, wenn man das Porträt einer oder eines Bekannten sieht. Dann erklärt man, es sei unähnlich, es fehlten die richtige Haltung und der seelische Ausdruck. Dadurch macht man auf die Umstehenden den Eindruck, man sei streng, aber gerecht.
Versteht man von der Malerei nichts, so spare man nicht mit kurzen, aber inhaltreichen Äußerungen. Hierzu merke man sich Ausdrücke, wie: Satte Farben, mangelhafte Perspektive, unnatürlicher Luftton, verzeichnet, die Figuren heben sich nicht ab, schmutzige Fleischfarbe u. s. w. An Statuen finde man einen zu langen oder zu kurzen Schenkel, einen zu kurzen Hals, Mangel an Originalität, an Büsten vermisse man das Wesen der oder des Dargestellten. Lob ausgeschlossen.
Beim Anblick von Centauren und in Fischschwänzen auslaufenden Frauen sage man, was einem einfällt. Im ganzen Saal ist keiner, der schon solche Mißgeburten lebend gesehen hat.
Sieht man das Bild eines Malers, der nichts kann und augenscheinlich selbst nicht weiß, was es darstellt, so vergesse man nicht, daß der betreffende Maler jedenfalls eine Schule gegründet hat, und äußere sich also respektvoll über das Bild. Denn gewöhnlich steht in der Nähe ein Mitglied dieser Schule, was unter Umständen sehr unangenehm werden kann.
Man halte die Landschaft, welche ein anderes Mitglied der bezeichneten Schule ausgestellt hat, für einen Seesturm, oder
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