Der Moderne Knigge
Herren, denen man eben vorgestellt worden ist. Alsbald vermehrt sich das Geld nicht. Hat man im Gegenteil alles verloren, so bestelle man sich per Telegraph von seinem Bankier eine größere Summe und erwiedere die Grüße der erwähnten Herren nicht mehr, denn es sind Bauernfänger. Will man aber erfahren, daß es ehrliche Leute sind, so frage man nur sie selbst.
Trifft man am Brunnen eine tiefschwarz gekleidete Dame, die im vorigen Jahr ihren Gatten und gestern ihr Portemonnaie verloren hat, so entferne man sich schleunigst, um dem jungen Mädchen den Schmerz zu ersparen, durch weitere Mitteilungen ihre Wunden noch weiter aufzureißen.
Sieht man dann am folgenden Tag an der Mittagstafel die Beklagenswerte in Gesellschaft eines reichen Amerikaners, so erhebe man sich zum Zeichen ehrender Teilnahme, was der reiche Amerikaner nicht bemerken wird.
Ist man Freund von romantischen Erzählungen, so lasse man sich von diesem Amerikaner das Glück schildern, das ihm in den Schooß fiel, indem er durch einen wunderbaren Zufall die junge Wittwe kennen lernte. Man beeile sich aber, denn es könnte doch sein, daß das beglückende Mädchen mit einem reicheren Amerikaner durchbrennt. Dann ist es zu spät.
Will man im Kurorttheater eine neue Operette hören, so warte man, bis »Die Fledermaus« gegeben wird und gehe hinein. Eine neuere Operette hat das Repertoire nicht aufzuweisen. Gastiert darin eine berühmte Soubrette, so darf man überzeugt sein, daß sie überhaupt nur gastiert, weil sie nirgends mehr engagiert wird. Lernt man sie persönlich kennen, so sage man ihr nicht, daß man sie bereits vor neunundzwanzig Jahren als Martha gehört habe. Denn dies ist vielleicht schon vierunddreißig Jahre her, und dann hat man sich blamiert.
Auf dem Wege zum Speisen weiche man behutsam solchen Personen aus, welche gerne ihre Krankheitsgeschichte erzählen. Hat aber jemand zu erzählen begonnen, so entschuldige man sich, indem man versichert, man habe leider Appetit, und entferne sich mit Schleue.
Hat man längere Zeit schlecht gegessen und wird man von einem Besucher des Badeorts mit der Behauptung, dort sei das Essen ganz vortrefflich, in ein anderes Restaurant geschickt, so sage man nicht, dies sei nicht wahr, bis man sich davon überzeugt hat. Man glaube aber nicht, daß man sich nicht davon überzeugen wird.
Wird man bei Tisch gut bedient, so gebe man freudig die verschiedenen Trinkgelder. Wird man schlecht bedient, so gebe man dieselbe Summe, wenn man morgen nicht noch schlechter bedient werden will.
Findet in manchen Kurorten schon in aller Frühe Musik statt, so ist man machtlos dagegen. Man versuche es einmal, um nichts unversucht zu lassen, mit einer Petition an die oberste Behörde des Städtchens, aber man wird keinen Erfolg zu verzeichnen haben. Das Kurorchester ist meist aus steuerzahlenden Bürgern des Badeorts zusammengesetzt, mit deren Gewerbeschein nicht zu spaßen sein dürfte, auch pflegen sie verheiratet zu sein und etliche Kinder komponiert zu haben. Man entschließe sich aber einmal, mit verstopfen Ohren an den Brunnen oder an die Quelle zu gehen, wozu man sich nicht zweimal entschließt, denn es sieht schlecht aus und nützt nichts.
Wird dem Kurgast die Zeit lang, so ist ihm das Folgende zum Zeitvertreib zu empfehlen. 1. Er richte wegen der Höhe der Kurtaxe eine Eingabe an die Badedirektion. Dieselbe wird zurückgewiesen. Alsdann wiederholt man die Reklamation. Auch diese findet keine Berücksichtigung. Alsdann zahlt man. 2. Rasiere er sich selbst, wenn er bisher gewöhnt war, sich rasieren zu lassen. Dies ist sehr unterhaltend, besonders anfangs, wo man sich ab und zu noch schneidet. 3. Gehe er zum Photographen, blättere im Vorzimmer in dem dort ausliegenden alten Jahrgang der »Fliegenden Blätter« und gehe dann wieder fort, ohne photographiert worden zu sein. Dies ist wohl das Kurzweiligste in einem Kurort.
Werden Ausflüge unternommen, an denen man teilnimmt, so finde man sich erst im Augenblick des Aufbruchs am Sammelplatz ein, so daß die Damen ihre Regenmäntel, Taschen, Schirme und andere nicht unwichtige Gegenstande bereits unter die Herren zum Tragen verteilt haben. Dies wird für ungalant und egoistisch gehalten, befreit aber von einer höchst langweiligen Last.
Will man auf gemeinschaftlichen Ausfahrten nicht durch Gespräche, die man bereits auswendig weiß, in Anspruch genommen sein, so suche man einen Sitz neben dem Kutscher zu erobern, welcher gegen ein kleines Trinkgeld das
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