Der Moderne Knigge
tiefste Schweigen leistet, was durch eine Gabe bei einem Kurgast nicht zu erreichen sein würde, selbst wenn er die Gabe einsteckte.
Besucht man einen Kurort gern, so wäre es sehr unvorsichtig, derart kurgemäß zu leben, daß man ihn geheilt verläßt und ihn im nächsten Jahr nicht wieder aufsuchen müßte. Man lebe also genau nach der Vorschrift der Ärzte, deren Interesse es ist, daß der Kurgast wiederkehrt. Hieraus folgt, daß man sich vor Ausschreitungen hüte, welche man sich selbst verschreibt, denn solche könnten gerade zur völligen Wiederherstellung führen, die man weise zu vermeiden sucht.
Nach der Ankunft in einem Kurort miete man sofort eine passende Wohnung. Hat man solche gefunden und fragt den Wirt, was sie koste, so sagt er das Doppelte. Sofort biete man, was sehr unvorsichtig ist, die Hälfte, denn man bekommt sie für diesen Preis, der noch um ein Viertel zu hoch ist. Man darf aber nie vergessen, daß die Wirte doch im Winter leben wollen.
Man wird in Kurorten häufig von alten Bekannten oder von noch älteren Unbekannten angeredet, welche nichts zu reden haben und sich daher kurortsüblicher Phrasen bedienen. Man sei also auf passende Antworten gefaßt. In der ersten Zeit des Aufenthalts wird man gefragt: »Sind Sie wieder hier?«, worauf man rasch nein antwortet. Dieselbe Antwort giebt man, wenn der Aufenthalt zu Ende geht, auf die Frage: »Sind Sie noch hier?« In solcher Weise trägt man vielleicht nichts dazu bei, daß diese dummen Fragen aufhören.
Ist man allein in einem kurzweiligen Kurort, so schreibe man nicht zu zärtlich an die Gattin. Sie kommt sicher.
Dieselbe Vorsicht hat die Frau zu beobachten, welche in einem kurzweiligen Kurort allein ist. Der Gatte kommt vielleicht.
Der Sommer ist vorzugsweise für Feste reserviert, welche sich zum großen Teil im Freien abspielen. Unter diesen stehen die Feste der
Sänger, Turner- und Schützenvereine
obenan. Sie sind bekanntlich der Schrecken der Städte, welchen von den Festgenossen der Vorzug gegeben worden ist und die zum Schauplatz des betreffenden Festes erhoben sind.
Da diese Städte mit sogenanntem Vergnügen die ehrenvolle Verpflichtung übernehmen, die lieben Gäste so splendid wie möglich zu empfangen und ihnen die Anwesenheit recht freundlich und billig zu gestalten, und da sich die Eisenbahnverwaltungen mit wahrem Entsetzen für verpflichtet halten, den lieben Festteilnehmern sehr billige Fahrkarten zur Verfügung zu stellen, so thut man gut, nicht nur einem dieser Vereine, sondern zweien oder allen dreien anzugehören, um von dem erschütternden Entgegenkommen dieser Städte und Eisenbahnverwaltungen einen fast kostenlosen Gebrauch machen zu können.
Ist man also nicht vergnügungssüchtig und singt, turnt und schießt man nicht, so wird man rechtzeitig Mitglied dieser drei Vereine und macht ihre Wanderfeste mit, nachdem man die billige Eisenbahnkarte bezahlt oder umsonst erhalten hat.
In der zum Fest bestimmten Stadt angelangt, wird man mit den andern Festgenossen, auch Brüder genannt, schon auf dem Bahnhof willkommen geheißen, was niemals geschähe, wenn man als einzelner Reisender, der seine Fahrkarte voll bezahlt hat, kein Freiquartier bekommt, nicht zu großen Festtafeln geladen wird und nicht an anderen Unterhaltungen und Festlichkeiten kostenlos teilnimmt.
Wird man zur Eröffnung des Festes am ersten Abend vom Bürgermeister der Feststadt feierlich angeredet und bildet man in dieser Anrede mit den anderen Brüdern eine Korporation, auf die das Vaterland mit gerechtem Stolz blickt und welcher das Reich Einigkeit und Festigkeit und Schutz seiner heiligsten Güter mitverdankt, so stimme man dankbar in das Hoch auf die Korporation ein, mit welchem der Bürgermeister schließt.
Es findet dann gleich der Sturm auf das Buffet statt, welches sich unter der Last der Erfrischungen beugt.
Während an den folgenden Tagen die beratenden Sitzungen stattfinden, bekümmere man sich um die Sehenswürdigkeiten der Stadt, erinnere sich aber präzise der Pflicht, dem gemeinsamen von der Stadt gegebenen Frühstück und Mittagessen beizuwohnen und an den gleichfalls von der Stadt arrangierten Ausflügen teilzunehmen, um zu beweisen, daß man den Bestrebungen des Sänger-, Turner- oder Schützenverbandes gewissenhaft und von ganzem Herzen nahesteht. So viel ideales Streben muß von jedem Bruder an den Tag gelegt werden.
Ist die Feststadt eine größere, die ein Theater besitzt, und hat dies Theater eine Festvorstellung, für
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