Der Mönch in Weimar: Ein Schauerroman nach alter Mode (German Edition)
gegen die Außenwand der Kutsche rührte von einem Dreschflegel her, geschwungen von ungestümer Bauernhand. Der Wagen hielt an, man hörte den Kutscher auf dem Bock fluchen und seine Stimme dann rasch im Getön der Antworten untergehen.
„Nieder! Nieder mit der Willkürherrschaft! Hoch die Freiheit!“, brüllte es von draußen mit sich überschlagenden Stimmen, die ohne Zweifel vom Branntweingenuss herrührten.
Wilhelm Herder zuckte mit dem Kopf zurück und ließ den Vorhang des Kutschenfensters wieder herunterfallen. Er wandte sich mit lauter Stimme, mit der er nur schwer den Lärm, der von draußen kam, übertönen konnte, an Lewis: „Sagtest du nicht, der Herr Geheimrat hätte geschrieben, dass manchen Menschen in Weimar der Verstand stillstünde?“
Lewis nickte nach einem Atemzug, in dem er überlegte, ob er Herder auch richtig verstanden hatte, denn das Schreien und Tönen der Menschenmenge war ohrenbetäubend. „Ja. Aber es hieß auch, die Lage hätte sich seit Weihnachten verändert.“
Herder nickte bitter und bedeutete Lewis, selbst nach draußen zu sehen. „Es scheint, als hätte sich bei manchen der Verstand gänzlich aus dem Staub gemacht ...“
Lewis schob den Stoff des Vorhangs beiseite und blickte in die von Fackeln und Laternen wabernd beleuchtete Nacht.
Was er da sah, hätte er sich in seinen düstersten Alpträumen nicht ausmalen können. Es schoss ihm mit einem Mal das Erlebnis durch den Kopf, welches er am Tage seiner Ankunft in Weimar, damals, vor vielen Wochen, gehabt hatte. Er dachte an die Kuh, die er in seinem von Hitze und Schläfrigkeit trunkenen Zustand für den Satan selbst gehalten hatte. Nun jedoch bedurfte es keiner verwirrten Sinne, dieses Spektakel für den Tanz aller Teufel und Dämonen der Vorhölle und des Fegefeuers zu halten. Lewis schaute und schauderte.
Zunächst sah er nur aufgerissene Münder und wutverzerrte Gesichter, vor Wahnsinn leuchtende Augen und zu Krallen gebogene Hände, die sich dicht an dicht und eng an der Kutsche vorbeischoben. Die aufgeregten Schreie und Rufe waren nicht nur hörbar, sie drangen wie Druckwellen auf Lewis’ Körper ein und erschütterten Organe und Knochen. Das Gewirr der erhobenen Arme, der flatternden Haare und der darüberwehenden Fetzen von Stoff, die Stangen mit den Kokarden und Freiheitshüten, die sich aus den Massen erhoben, all das verwirrte und betäubte den Blick. Nur mit Mühe vermochte Lewis, sich ein Bild der Lage zu verschaffen, aber es schien, als sei halb Weimar auf den Straßen und – verrückt. Die Menschen schrien wüste Drohungen gegen Regierung und Obrigkeit, Tod und Pest wünschte man den Herrschenden und deren Handlangern an den Hals. Forderungen nach geringeren Steuern und Abgaben, nach niedrigeren Preisen und nach Lösung aus der Fron wurden stets durch eine Stimme laut, dann von anderen aufgegriffen, weitergerufen, durch die Gassen getragen, bis sie in der Ferne verhallten und neue erklangen, und bald bebten die Fassaden, als es von den Häuserwänden wie in babylonischer Sprachverwirrung durcheinanderhallte.
Immer wieder klang der Ruf nach Freiheit auf. Freiheit von diesem, von jenem, Freiheit für diese und für jene. Freiheit, Freiheit, Freiheit.
Lewis schwirrte der Kopf. Er sah kurz ins Wageninnere. Hardenberg hatte aus dem anderen Fenster gesehen und mit einem Mal einen Stoß bedruckter Flugblätter im Gesicht gehabt. Er spuckte und schlug mit den Händen, und die Papierzettel stoben wie Herbstlaub durch den Wagenschlag, während draußen der Mann mit seinem großen Weidenkorb weiterging und schreiend und mit vollen Händen seine Pamphlete unters Volk streute wie ein Sämann, der das Korn auf die fruchtbare, gierende Scholle wirft.
Hardenberg griff eines der bedruckten Blätter und strich es glatt. „Drohzettel“, meinte er erzürnt. „Gegen Bürgermeister Häublein. Grauenvolle Dinge werden angekündigt.“
Herder nahm einen anderen Zettel. „Das scheint aus einer französischen Zeitung zu stammen.“ Er überflog die Zeilen. „Ja. Ich habe Ähnliches im Hause meines Vaters gesehen.“ Beunruhigt warf er einen Blick nach draußen, auf das rasende Volk. „Ich hoffe, er ist nicht auch dort draußen.“
Lewis legte die Stirn in Falten. „Ganz gewiss nicht, Wilhelm. Dafür dürfte er gute Gründe haben ...“
Noch ehe Herder nachfragen konnte, warum Lewis sich dessen so sicher sein könne, rief Hardenberg dazwischen. „Mein Gott, seht!“ Er zeigte aus dem Fenster.
Draußen wirbelten
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