Der Mönch und die Jüdin
»Ich hole Wein.«
Ringsum herrschte große Unruhe. Arnolds ganzes Gefolge hatte sich in den Dom geflüchtet, davor waren Soldaten postiert. Und vom Domplatz hallte der Lärm der Menge herein, als wüte dort ein gewaltiger Lindwurm. Darüber erhob sich Radulfs Stimme: »Seht ihr? Keiner von ihnen ist mehr am Leben. Wir haben einen Sieg gegen die Armeen des Teufels errungen!«
Konrad sah Hannahs Gesicht dicht über seinem. Langsam kehrte seine Stimme zurück. »Hannah …«, murmelte er mühsam. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn und legte für einen Moment ihren Kopf auf seine Brust. »Ich möchte immer bei dir sein«, flüsterte sie.
Anselm kam zurück, mit einem großen Becher. »Trink das«, sagte er.
Konrad richtete sich auf, trank einen kleinen Schluck und musste husten. Dann trank er weiter. Der Wein war schwer und stark.
Anselm schaute ihn aufmerksam und besorgt an. »Ich wünschte, Brigid wäre hier«, sagte er. »Sie könnte dir jetzt bestimmt am besten helfen.«
Brigid, dachte Konrad. Das Mädchen aus dem Feuer. Sobald ich sie wiedersehe, muss ich sie fragen.
»Ruh dich noch etwas aus. Ich muss gehen, der Bischof verlangt nach mir«, sagte Anselm und verschwand.
Der starke Wein bewirkte, dass sich eine angenehme Wärme in Konrads Leib ausbreitete. Langsam kehrten seine Lebensgeister zurück. Noch immer erinnerte er sich nicht daran, was vor dem Feuer geschehen war, diesem Feuer des Hasses, in dem die schöne Frau mit den grünen Augen umgekommen war. An das Mädchen erinnerte er sich nun, und an Ludowigs Tat, sein heldenmutiges Opfer. Er war sicher, dass es sich um jenen Ludowig handeln musste, der ihm auf der Wolkenburg begegnet war. Warum hätte dieser sonst Konrad wiedererkennen sollen?
Dieses kleine Fenster der Erinnerung, das sich jetzt geöffnet hatte, bewirkte in Konrad eine tiefgreifende Veränderung. Er hatte das Gefühl, als ob sich in seinem Inneren allmählich eine Quelle der Kraft öffnete, die seit damals verschlossen gewesen war.
In dem Raum, in dem er lag, gab es ein kleines Fenster, das zum Domplatz hinausging. Simon hatte den Fensterladen geöffnet und sich dort postiert. »Herrin, bitte kommt her und schaut Euch das an«, sagte er. Seine Stimme klang besorgt.
Hannah strich Konrad sanft über die Wange. »Bleib noch liegen. Erhol dich von dem Schrecken.« Dann ging sie zu Simon hinüber und stellte sich neben ihm ans Fenster. Die neue Kraft, die Konrad auf einmal in sich spürte, verlieh ihm den Mut, sich den Geschehnissen draußen auf dem Platz zu stellen. Als er sich vorsichtig erhob, merkte er, dass ihm seine Beine wieder gehorchten. Er gesellte sich zu Hannah und Simon.
An den Pfählen hingen die verkohlten, noch rauchenden Leichen der unglücklichen ›Armen Christi‹. Rauchschwaden schwebten über dem Platz wie der Hauch des Todes. Ein widerwärtiger Gestank drang durch das geöffnete Fenster, und Konrad ahnte, dass dies der Geruch von verbranntem Menschenfleisch war.
Offenbar waren inzwischen noch mehr Menschen auf dem Platz zusammengeströmt. Viele Hundert waren es auf jeden Fall, vielleicht schon mehr als tausend. Noch immer konnte Konrad die brodelnde, bedrohliche Energie, die von ihnen ausging, deutlich spüren. Der Dämon des Hasses, der sie antrieb, schien noch nicht gesättigt zu sein.
Als Hannah bemerkte, dass Konrad neben ihr stand, versuchte sie zu lächeln, aber Angst und Sorge waren ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Von der Seite des Platzes her, wo die Scheiterhaufen rauchten, hatte die Menge sich wieder geteilt und eine Gasse gebildet. Durch sie schritten Radulf und sein Dolmetscher hinüber zur verlassen daliegenden Tribüne vor dem Dom. Die beiden stiegen auf die Tribüne, und von dort predigte Radulf erneut zur Menge. Seine Mission in Köln war offensichtlich noch nicht beendet.
»Meine frommen, gottesfürchtigen Brüder und Schwestern!«, rief er. »Wir haben dem Satan eine schwere Niederlage zugefügt, indem wir diesen zehn seiner abscheulichen Diener gaben, was sie verdienten. Doch ist der Krieg damit zu Ende? Können wir uns zufrieden zurücklehnen? Könnt ihr sicher sein, dass euren Familien nun keine Gefahr mehr durch den bösen Antichristen droht?«
Schlagartig wurde Konrad wieder bewusst, weswegen Radulf eigentlich nach Köln gekommen war. Die Gedanken daran waren durch die schreckliche Ermordung der ›Armen Christi‹ vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden. Worum es dem Zisterziensermönch in erster Linie ging, hatte
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