Der Mönch und die Jüdin
Simon beugten sich mit besorgten Gesichtern über ihn. »Dieser schreckliche Anblick war zu viel für ihn, Herrin«, sagte Simon. »Das kann ich gut verstehen.« Plötzlich war auch Anselm da. Inmitten all des Durcheinanders hatte er Konrad offenbar nicht aus den Augen gelassen und beobachtet, was geschehen war. »Kommt, wir tragen ihn in die Sakristei«, sagte er mit wohltuend ruhiger, gefasster Stimme.
Konrad sah und hörte, was um ihn herum vorging, aber er konnte nicht sprechen, war wie erstarrt. Die Erinnerung brannte in ihm. Es war so lange her. Er war ein kleiner Junge gewesen. Voller Furcht hatte sich Konrad hinter dem stinkenden Fass versteckt … Das hatte ihm das Leben gerettet, man hatte ihn schlicht übersehen. Von dort hatte er das Schreckliche hilflos beobachtet, stumm und starr vor Verzweiflung.
Er spürte, wie Simon und Anselm ihn hochhoben und davontrugen, und dass Hannah – ihre eigene zarte Hand vor Angst ganz kalt und feucht – seine Hand hielt und beruhigend auf ihn einredete. Auch damals war er so hochgehoben worden. Man hatte ihn schließlich gefunden, ein zitterndes Bündel aus Angst, starke Männerarme hatten ihn hochgehoben. Er wusste nicht, wer ihn davongetragen und in Sicherheit gebracht hatte. Er erinnerte sich nur an die Gesichter der schönen Frau und des kleinen Mädchens. Und an Ludowigs Gesicht. War es der Ludowig? Der Ludowig von der Wolkenburg? Konrad konnte vor sich sehen, wie der Mann mitten in das Feuer hineinsprang, wie er das Mädchen losriss, sie über die Flammen hinweg in Sicherheit warf, wie sie landete und sich mit dem unverletzlichen Instinkt des Kindes abrollte wie eine Katze. Er sah, wie Ludowig wieder aus den Flammen auftauchte, seine Kleidung brennend wie eine Fackel, Feuer in seinem Gesicht und an seinen Armen, wie er sich schreiend am Boden wälzte, um die Flammen zu ersticken, und wie er schließlich wimmernd und zitternd liegen blieb, Gesicht und Arme verbrannt. Ludowig.
Konrads Starre löste sich, er zitterte und weinte, spürte die Tränen auf seinem Gesicht. Der strahlend blaue Himmel über ihm erschien ihm angesichts der Grausamkeit der Scheiterhaufen wie blanker Hohn. Hannah strich ihm beruhigend über die Stirn. »Armer Konrad«, sagte sie leise, mit trauriger Stimme.
»Ich werde nie verstehen, warum die Menschen sich gegenseitig solche schrecklichen Dinge antun, ganz gleich, ob sie Christen sind, Juden oder Sarazenen«, sagte Simon.
»Und doch glaube ich, dass der Bischof weise entschieden hat«, sagte Anselm. »Hätten wir Ritter eingegriffen, wären noch viel mehr Menschen einen sinnlosen Tod gestorben.«
»Konrad ist so feinfühlig«, sagte Hannah liebevoll. »Das war zu viel für ihn.«
»Es ist nicht allein das, was er heute mitansehen musste«, sagte Anselm. »Durch das Geschehen wurde eine alte Erinnerung in ihm geweckt, etwas, das er seit der Kindheit mit sich herumträgt.«
Was wusste Anselm darüber? Welche Rolle hatte er damals gespielt? Vineberg – Anselms Verhalten dort, die Reaktion der Fährleute, und Konrads eigene dunkle Ahnung, als sie durch den Ort geritten waren. Gab es da einen Zusammenhang?
Er hätte Anselm gerne gefragt, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie ein zitterndes Häufchen Elend. Und da war noch etwas: Die Augen des Mädchens. Konrad kannte jemanden, der die gleichen grünen Augen hatte wie das Mädchen und die schöne Frau, jemand, der ihm von Anfang an seltsam vertraut vorgekommen war: Brigid, die junge Herrin der Wolkenburg.
Sie erreichten die Domsakristei. »Halt!«, rief ein Wächter. »Diese Frau sieht mir jüdisch aus. Sie darf hier nicht herein.«
»Die Frau kommt mit«, entgegnete Anselm. »Ich glaube, sie tut unserem Freund hier gut.«
»Aber nicht der Mann, er ist doch gewiss auch Jude«, beharrte der Wächter.
»Ich bin ihr Diener«, erwiderte Simon trotzig. »Ich begleite und beschütze meine Herrin.«
»Kerl, siehst du nicht, wen du vor dir hast?«, herrschte Anselm den Wächter an. »Diese Leute sind meine Freunde. Sie stehen unter meinem Schutz!«
»Oh, verzeiht, Herr Marschall!«, sagte der Wächter erschrocken. »Ich habe Euch nicht sofort erkannt. Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr persönlich einen Verwundeten tragen würdet.«
»Er ist nicht körperlich verwundet, sondern an seiner Seele. Und nun lass uns durch. Los!«
Sie trugen Konrad in einen Nebenraum der Sakristei und legten ihn dort auf eine Bank. »Bleibt bei ihm«, sagte Anselm.
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