Der Mönch und die Jüdin
aber sofort sprangen Leute herbei und löschten das Feuer, während die Fähre auf den Fluss hinausfuhr.
Wenn sie die Augen schloss, sah sie immer noch die entsetzlichen Bilder vom Untergang der ersten Fähre. Diese Bilder würde sie wohl ihr ganzes Leben nicht mehr vergessen. Viele Menschen waren in den Fluss gesprungen, um sich zu retten, manche hatten am ganzen Körper gebrannt wie Fackeln. Sie hatte mitgeholfen, Leute aus dem Wasser zu ziehen, darunter einige mit schlimmen Brandwunden. Aber die meisten waren von der starken Strömung fortgerissen worden. Insgesamt hatten von den ungefähr hundert Menschen an Bord nur dreiundzwanzig lebend das andere Ufer erreicht. Was für eine teuflische Grausamkeit, hoch oben von einer sicheren Terrasse auf ein Schiff voller wehrloser Menschen zu schießen! Hannah war sicher, dass sie den Namen Hardefust für immer hassen würde.
Auch Simon, der ihr am vergangenen Morgen noch so treu zur Seite gestanden hatte, war unter den Opfern. Bekannte ihres Vaters, die mit einem eigenen kleinen Kahn hinübergefahren waren, hatten ihr berichtet, dass Simon, seine Eltern und sein kleiner Bruder nach dem Untergang der Fähre tot aus dem Fluss gezogen worden waren.
Ihre Mutter schlief mit den anderen älteren Frauen oben auf dem Wagen. Rebekka war ebenfalls eingenickt, den Kopf auf der Schulter ihrer Schwester. Die Gemeindeältesten hatten eine Pause von drei Stunden angeordnet, da die meisten Leute völlig erschöpft waren und einfach nicht mehr weiterkonnten. Anselm von Berg war das zunächst gar nicht recht gewesen. Noch waren sie nicht an Bonn vorbei, wo es weitere große Fähren gab, mit denen etwaige Verfolger übersetzen konnten. Aber schließlich hatte der Marschall eingesehen, dass die Leute eine Ruhepause benötigten.
Hannah wünschte sich sehr, Konrad wäre bei ihr. Nach der Rheinüberquerung hatte sie ihn nur kurz von weitem gesehen. Er ritt hinter dem Zug der Juden bei den erzbischöflichen Rittern. Wenn sie doch nur ein wenig Zeit ungestört miteinander verbringen könnten! Sie hatte ihm sich so nah gefühlt nach seiner Ohnmacht auf dem Domplatz, während dieser kurzen Momente in der Sakristei. Und er liebte sie, das spürte sie. Da war eine Gewissheit in ihr, dass sie beide zusammengehörten. Das war das Einzige, was sie im Moment aufrechterhielt.
Dann fiel ihr ein, dass sie jetzt Teil von Onkel Nathans Familie war. Josephs große Sorge, dass dies geschehen könnte, hatte sich bewahrheitet. Nathan, Benjamin und David erwarteten, dass die Frauen gehorchten und stets taten, was man ihnen befahl. Konrad war ein Goj, und arm noch dazu. Nathan würde ganz sicher einen anderen Mann für Hannah aussuchen und sie mit roher Gewalt dazu zwingen, diesen auch zu heiraten. Wenn ihre Liebe eine Chance haben sollte, musste sie fliehen. Aber Ruth und Rebekka würden nicht mitkommen, dafür waren sie nicht geschaffen. Sie würde sie in der Tyrannei Onkel Nathans zurücklassen müssen. Was sollte sie nur tun? Sie war ja jetzt für ihre Familie verantwortlich! Als ihr dieses Dilemma richtig bewusst wurde, verließ sie für einen Moment alle Kraft. Sie vergrub das Gesicht erneut in den Händen und weinte.
***
Konrad vermisste Hannah ebenso sehr wie sie ihn. Als man weit nach Mitternacht auf Anselms Befehl das Lager aufgeschlagen hatte, um den erschöpften Juden eine Ruhepause zu ermöglichen, machte er sich auf, nach ihr zu suchen, um ihr das Buch zu bringen. Vielleicht würde sie das ein klein wenig aufmuntern.
Als er das Buch aus der Satteltasche nahm, stand unvermittelt Anselm neben ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: »Was hast du vor?«
»Hannah suchen«, sagte Konrad ohne Umschweife.
»Sei vorsichtig, wenn du in das Lager der Juden gehst.«
»Aber warum? Wir sind doch auf ihrer Seite und stehen ihnen bei. Was habe ich da zu befürchten?«
»Vergiss nicht«, antwortete Anselm, »dass unsere Glaubensbrüder, Christen wie du und ich, ihnen gerade alles genommen haben, was sie besaßen. Ihr Viertel ist niedergebrannt, alle ihre Freunde und Verwandten, die in Köln zurückblieben, ermordet. Da könnte der ein oder andere sich zu unbedachten Taten hinreißen lassen, wenn ihm ein einzelner, unbewaffneter Christ über den Weg läuft.«
Das hatte Konrad überhaupt nicht bedacht. Aber seine Sehnsucht nach Hannah war stärker als seine Angst. »Ich glaube, sie braucht mich jetzt, und ich werde ihr das Buch bringen.« Anselm klopfte ihm auf die Schulter. »Ach,
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