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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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Menschen besaßen die Fähigkeit, einander zu lieben. Man konnte es lernen. Man brauchte dazu Bildung, Philosophie, Weisheit, den kostbaren Schatz der Literatur.
    Er spürte, dass seine Kräfte immer mehr schwanden. Zum letzten Mal war er die Stufen zur Bibliothek hinaufgestiegen, wie ein Tier, das sich in seine Höhle zurückzieht, wenn es seine letzte Stunde nahen fühlt. Langsam löste er sich vom Fenster und ging noch einmal an den Regalen entlang, unendlich müde. Mühsam setzte er einen Fuß vor den anderen, das Atmen fiel ihm schwer.
    Bei dem einen oder anderen Werk blieb er stehen, erinnerte sich lächelnd an die kostbaren Weisheiten darin und an die Umstände, unter denen er es entdeckt und zum ersten Mal gelesen hatte. Liebevoll strich er mit der Hand über lederne Buchrücken.
    Bei Seneca verweilte er einen Moment. Der große römische Philosoph hatte geschrieben, dass der Tod die Bedingung allen Lebens sei. Der Mensch stürze nicht plötzlich in seinen Tod, sondern nähere sich ihm jeden Tag ein Stück. Ohne Angst, mit ruhiger, gelassener Würde hatte Seneca seinem Leben ein Ende gesetzt, als ihn der Todesbefehl des mörderischen Tyrannen Nero erreicht hatte.
    Auch Joseph fürchtete den Tod nicht. Als Junge von dreizehn Jahren war er nur knapp dem schrecklichen Morden entronnen, das den Juden in einer christlichen Umgebung jederzeit drohte. Seitdem war er immer vorbereitet gewesen. Er hatte sich geschworen, jeden Tag und jede Stunde mit Sinn zu füllen, seine Zeit nicht zu vergeuden.
    Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie mit Äxten und Fackeln in den Hof stürmten. Seine Bibliothek würde im Feuer vergehen, da war nichts mehr zu retten. Aber die Weisheit und die Liebe, die all diesen hier versammelten Autoren die Feder geführt hatten, würden nicht vergehen. Es gab noch viele andere Bibliotheken, in denen die literarischen Schätze der Menschheit behütet wurden. Und es würden immer wieder neue Werke geschrieben werden, die das Licht der Erkenntnis weitertrugen.
    Josephs Müdigkeit übermannte ihn. Seine Zeit war gekommen, das fühlte er. Langsam, als wate er erschöpft durch einen Fluss, ging er zu seinem Sessel. So viele Stunden hatte er dort verbracht – gelesen, mit Freunden und Gästen philosophiert, über Gott und die Welt nachgedacht. Jetzt wollte er dort seine müden Glieder ausruhen. Mit letzter Kraft sank er nieder auf das weiche, warme Schafsfell.
    Hannah hatte Ovid gerettet! Vielleicht war ein Buch über die Liebe und die geheimnisvolle Schönheit des Weiblichen ohnehin das wertvollste von allen. Und Konrad hatte dieses Buch für Hannah aufgehoben. Der Junge würde sein Versprechen halten, das sagte ihm seine Menschenkenntnis. Konrad wirkte zwar etwas unreif und ängstlich, denn er hatte noch nicht wirklich zu sich selbst gefunden. Aber tief im Herzen verfügte dieser zarte junge Mann über Kraft und Integrität. Hannah würde bei ihm in guten Händen sein, da war sich Joseph sicher.
    Und in Hannah würde die Weisheit aus seiner Bibliothek weiterleben. Wenn er an Hannah dachte, wusste er, dass sein Leben nicht umsonst gewesen war! Josephs Gedanken glitten für einen Moment in die Vergangenheit, und er schüttelte lächelnd den Kopf. Wie enttäuscht war er als jüngerer Mann gewesen, dass Jahwe ihm beide Söhne genommen und nur die Töchter gelassen hatte! Heute wusste er es besser. Hannah machte ihn so stolz, wie kein Sohn es besser vermocht hätte. Das bedeutete nicht, dass er Rebekka weniger liebte als sie. Aber Hannah war sein Vermächtnis an die Welt. Sie war Geist von seinem Geiste. Auch wenn sie nun scheinbar alles verlor, würde sie überleben. Sie würde als Händlerin zu Wohlstand gelangen, sie würde die Schönheit in der Welt vermehren und das Licht der Weisheit weitertragen. Sie war seine Freude, das Glück, das es ihm leicht machte, alles loszulassen und die große Reise ins Unbekannte anzutreten.
    Joseph fühlte keine Bitterkeit, und inmitten all dieses Aufruhrs und Hasses wohnte in seinem Herzen ein tiefer Frieden. Auf lange Sicht würden Weisheit und Liebe siegen, davon war er fest überzeugt. Die Menschheit würde den Hass überwinden. Sein Leben war ein kleiner Baustein auf diesem beschwerlichen Weg gewesen, und das machte ihn glücklich, trotz allem, was gerade in Köln geschah. Und Hannah, seine Schülerin, war ein weiterer Baustein. Und viele andere würden nachfolgen. In diesem Gefühl des Friedens sank Joseph der Kopf auf die Brust. Sanft und ohne Schmerzen

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