Der Mönch und die Jüdin
würde der Frühling nicht bis hier oben reichen. Das Geschrei der Raben und Dohlen drang von draußen herein und mischte sich mit dem Rauschen des Windes in den Fensterhöhlen. Konrad widerstand der Versuchung, durch eines der Fensterlöcher zu blicken. Er wollte erst nach unten schauen, wenn er ganz oben auf dem Turmdach angekommen war.
Schwer atmend erreichte Konrad das Dachgeschoss. Es war hoch und von zahlreichen Schießscharten erhellt. Tauben nisteten unter den Balken der schweren Holzdecke, zu der ein Treppengerüst hinaufführte. Konrad blieb einen Moment stehen und wurde sich bewusst, dass er sich noch nie im Leben so hoch über der Erde befunden hatte. Er kam wieder zu Atem und stieg die Holzstufen hinauf, die laut unter seinen Füßen knarrten.
Dann trat er ins Freie. Der Wind griff nach ihm. Die Wolken hatten sich aufgelöst, und Konrad sah die Sonne schon recht tief westlich des Rheins stehen. Er lief zur Brüstung und lehnte sich vorsichtig dagegen. Ganz geheuer war ihm das nicht, aber die Mauer schien doch sehr solide. Wie tief es dort hinabging! Zum ersten Mal sah er von oben auf fliegende Vögel herab, denn die Dohlen umkreisten den Turm etwas unterhalb der Brüstung. Zum Fluss hin fiel das Land steil ab, und die Wiesen erstreckten sich bis zum Rand des Rheindorfes Vineberg, dessen helle Strohdächer in der Sonne schimmerten.
Erst jetzt bemerkte Konrad einen Mann, der, von einem kleinen Holzverschlag notdürftig vor den Härten des Wetters geschützt, hier oben offenbar seinen Dienst als Turmwächter versah. Der Mann deutete eine Verbeugung an, die kaum mehr als ein Kopfnicken war, und spähte dann schweigend über die Brüstung, ohne Konrad weiter zu beachten. Vor ihm auf der Brüstung lag eine Schriftrolle, auf der er etwas notierte. Das wunderte Konrad, aber vielleicht nahm der Mann ja neben seiner Aufgabe als Turmwächter noch Schreibaufgaben wahr.
Langsam ging Konrad an der steinernen Brüstung entlang und versuchte, alles, was er sah, tief in sich aufzunehmen. Er fühlte sich wie in einem Traum. Rheinabwärts glaubte er, ganz weit weg und winzig wie kleine Kieselsteine am Fluss, die Dächer einer Stadt auszumachen. Dann ging er hinüber zur Ostseite des Turms, wo die bewaldeten Kuppen des Siebengebirges sich bis zum Horizont erstreckten. Konrad schauderte bei dem Anblick. Keine Anzeichen menschlichen Lebens gab es dort, keine Felder und Wiesen, keine rauchenden Kamine, nichts als ein endloses Meer aus Bäumen.
Doch dann hörte er ausgerechnet aus dieser Richtung ein Geräusch, schaute genauer hin und sah, wie eine Gruppe von sechs Reitern aus dem Wald auftauchte und sich der Burg näherte. Feinde?, dachte Konrad für einen Moment ängstlich, sagte sich aber, dass es wohl eher der Burgvogt mit seinem Gefolge sein musste. Ein großer, breitschultriger Mann ritt vorneweg – bestimmt war das der Ritter Rainald. Er sah grimmig und furchteinflößend aus. Konrad fragte sich, wer von den Männern wohl Gilbert von Nogent sein mochte. Einen gab es, der anders gekleidet war. Konnte es sein, dass er eine Kutte trug? Auch eine Frau ritt mit ihnen, deren langes, rötlich schimmerndes Haar im Wind wehte. Sie trug Hosen und ritt wie ein Mann. Konrad hatte noch nie eine Frau zu Pferde gesehen, wusste aber, dass es sich für Frauen nicht geziemte, im Herrensitz zu reiten, und für edle Damen schon gar nicht.
Ob das die Zauberin war, die diese Burg in ihrem unheilvollen Bann hielt? Dass es an diesem Ort dunkle, böse Einflüsse gab, hatte Konrad von Anfang an gespürt, und auch Matthäus hatte sofort gesagt, wie unbehaglich er sich hier fühlte. Es war doch wohl kaum anzunehmen, dass sie sich beide irrten.
Konrad ging auf die andere Seite des Turms, dorthin, wo man den Burghof überblicken konnte. Es dauerte nicht lange, da kamen die Reiter durch das Tor, mit dem Burgvogt Rainald an der Spitze. Konrad war sicher, dass es sich bei dem grimmig wirkenden Recken um Rainald handelte. Dies bestätigte sich, als zwei Knappen aus dem Stall eilten, sich tief verbeugten, um sich dann dienstbeflissen um sein Pferd zu kümmern. Auch die anderen Reiter saßen im Hof ab. Drei von ihnen waren erzbischöfliche Ritter, und dann war da die Frau mit den wallenden rötlichen Haaren.
Und jetzt ritt als Letzter ein Mönch in schlichtem braunen Habit auf den Hof, ein großer, schmaler, von hier oben fast zerbrechlich wirkender Mann. Das ist er, dachte Konrad aufgeregt, das muss Gilbert von Nogent sein! Der neue Abt sah wie
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