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Der Mönch und die Jüdin

Der Mönch und die Jüdin

Titel: Der Mönch und die Jüdin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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das Hohelied Salomos deutet, Meister Gilbert. Ich habe einen großen Teil der Bibel selbst gelesen, und kein anderer Text darin hat mich stärker berührt als die wunderbare Dichtung des Hoheliedes – die Worte unseres Herrn Jesus Christus natürlich ausgenommen.«
    Wieder versetzte Brigid Konrad in Erstaunen. Also kannte sie nicht nur ein paar kurze Gottesworte aus Kirchenpredigten, sondern hatte offenbar selbst in der Bibel gelesen! Er hatte immer angenommen, dass dazu nur einige wenige besonders auserwählte und fromme Nonnen in der Lage seien. Fulbert hatte oft gesagt, Frauen seien zu dumm, um das Wort Gottes zu verstehen. Deshalb müsse es ihnen von Männern so gedeutet werden, dass der kleine, schwache Verstand der Frauen es begreifen könne. Wie war es dann möglich, dass eine Frau wie Brigid allein, ohne männliche Hilfe, in der Bibel las? Vielleicht wusste Fulbert einfach zu wenig von der Welt außerhalb des Klosters. Sofort schämte sich Konrad für diesen Gedanken, denn Fulbert war ihm immer als der Inbegriff von Gelehrsamkeit und Klugheit erschienen.
    Gilbert trank einen Schluck Met und sagte: »Sehr gern, edle Brigid und mein junger Konrad, will ich über das Hohelied Salomos sprechen, so wie es sich mir offenbart. Natürlich weiß ich, dass diese wunderbare Dichtung Raum für verschiedene Deutungen bietet, von denen die heute verbreiteteste und bekannteste sicher jene des Bernhard von Clairvaux ist. Ich jedoch glaube, dass sich das Hohelied auch in einer ganz anderen Weise deuten lässt, die allerdings leider sowohl beim Abt von Clairvaux wie auch beim Papst in Rom deutliches Missfallen erregen würde. Dabei sollte doch die Liebe niemals Missfallen erregen, sondern stets als göttliches Wunder gefeiert und gesegnet werden.«
    Der Magister theologicae redete mit sanfter Stimme in seinem schönen, harmonisch fließenden Latein. Konrad merkte, dass die anderen Stimmen im Rittersaal verstummten und alle aufmerksam zu lauschen begannen. Gilbert trank noch einen Schluck. »Denn worum geht es im Hohelied? Um die Liebe: Dieser ganze Bibeltext ist eine einzige Hymne auf die Liebe. Und um was für eine Liebe geht es? Bernhard sagt uns, das Hohelied sei eine Metapher für die Liebe zwischen Mensch und Gott.«
    Im Hintergrund übersetzte Matthäus leise für Sigismund, der kein Latein verstand, ins Deutsche.
    »Das mag sein. Oder sagen wir, für Bernhard, der sich selbst ganz dieser mönchischen Liebe zu Gott verschrieben hat, mag es so sein. Ist es aber auch das, was der vom Heiligen Geist inspirierte Dichter des Hoheliedes ursprünglich im Sinn hatte? Ich bin hier ganz anderer Auffassung als Bernhard. Denn was wird im Hohelied gefeiert? Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich, heißt es dort. Süßer als Wein ist deine Liebe. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.
    Und weiter, in Kapitel sieben, lesen wir: Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, gefertigt von Künstlerhand. Dein Schoß ist ein rundes Becken, Würzwein mangle ihm nicht. Wie eine Palme ist dein Wuchs. Ich sage: Ersteigen will ich die Palme, ich greife nach den Zweigen. Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste, Apfelduft sei der Duft deines Atems. Lass deinen Mund sein wie guten Wein, der meinem Gaumen glatt eingeht und Lippen und Zähne mir netzt.«
    Gilbert wandte sich Brigid zu. »Nun, Burgherrin, nehmen wir an, Ihr wüsstet nicht, dass dies ein Text aus der Heiligen Schrift ist und dass der große Bernhard von Clairvaux ihn auf seine Weise gedeutet hat – wovon, so würdet Ihr glauben, ist hier die Rede?«
    Brigid lächelte. »Diese Frage zu beantworten ist wirklich nicht schwer. Natürlich von der Liebe zwischen Mann und Frau! Das Hohelied feiert diese Liebe auf wunderbar poetische, aber doch klare und unmissverständliche Weise.«
    Wieder erstaunte es Konrad, wie sicher und klug sie antwortete. Er selbst hatte das Hohelied nie gelesen, denn es gehörte nicht zur üblichen Bibellektüre im Kloster Neuwerth. Und Bernhards Predigten bestanden fast ausschließlich aus seiner Deutung des Textes. Es gab darin so gut wie keine Zitate.
    Gilbert erwiderte Brigids Lächeln. »Ihr könnt Euch sicher vorstellen, dass Bernhard einige Mühe hatte, seine Zuhörer von seiner mönchischen, weltabgewandten Deutung des Hohelieds zu überzeugen. Mir fällt es jedenfalls schwer, ihm zu folgen, wenn er behauptet, mit dem Kuss sei der Heilige Geist gemeint, mit den Lippen der Braut Verstand und Willen. Und

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