Der Mönch und die Jüdin
wenn er uns einzureden versucht, das Liebesglück im Hohelied sei nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Es ist schwer vorstellbar, dass hier nicht die Verbindung von Mann und Frau beschrieben wurde, sondern dass es ausschließlich um die Beziehung der menschlichen Seele mit Gott gehen soll, bei der alle sinnlichen Gefühle und, wie Bernhard es nennt, ›körperlichen Phantasien‹ ausgeschaltet werden müssten.«
Rainald von Falkenstein lachte dröhnend. »Fürwahr, Meister Gilbert, ich kann mir lebhaft vorstellen, dass sogar Mönche – oder in Ermangelung gestillten Verlangens vielleicht gerade sie! – Mühe haben, dem guten Bernhard auf seinen weltfernen theologischen Pfaden zu folgen! Sagt mir aber, Gilbert, wie es kommt, dass ausgerechnet Ihr, ein Mönch, der fleischlichen Liebe, wie sie im Hohelied gepriesen und gefeiert wird, das Wort redet? Wo doch der fromme Bernhard und die meisten anderen Kirchenlehrer die fleischliche Liebe für sündig halten, obwohl sie, wie wir alle wissen, unsere Welt in Schwung hält!«
»Ich glaube«, antwortete Gilbert, »es gibt nur eine Liebe. Und diese eine Liebe kommt von Gott, ja, sie ist Gott. Wenn wir lieben, sind wir Gott nahe. Dann lebt Gott in uns. Darum hat unser Herr Jesus Christus gesagt, dass die Liebe zu unseren Nächsten, zu uns selbst und zu Gott das wichtigste Gebot ist. Diese Liebe kann sich in vielerlei Formen offenbaren: in der Zuneigung, die ein Reiter zu seinem treuen Pferd hegt; oder in der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Liebe will immer das Wohl desjenigen, den wir lieben. Darin finden wir Gott. Wenn Mann und Frau einander körperlich zugetan sind und es ihnen bei ihrer fleischlichen Intimität um nichts anderes geht als das gegenseitige Wohl, dann sind sie vom Licht der göttlichen Liebe erleuchtet und dann ist ihre fleischliche Vereinigung heilig und frei von jeder Sünde.«
Anselm hob seinen Krug. »Hört! Hört! Hier spricht ein wahrer Häretiker vor dem Herrn! Gilbert von Nogent, ich stimme jedem Eurer Worte von Herzen zu, aber es erstaunt mich nicht, dass der Papst Eure Schriften ins Feuer werfen lässt und Euch mit der Exkommunikation droht, falls Ihr diese Lehren weiter verbreitet.«
Konrad sah, wie Matthäus ein betroffenes Gesicht machte. Das war also der Grund, warum Gilbert Paris hatte verlassen müssen! Fulbert würde entsetzt sein, wenn er davon erfuhr.
»Leider wird in der Kirche die Bereitschaft, sich mit abweichenden Meinungen ernsthaft auseinanderzusetzen und sich auf den offenen Disput einzulassen, immer geringer. Doch genau eine solche Diskussion ist für Philosophie und Lehre eigentlich unverzichtbar.« Gilbert schüttelte betrübt den Kopf. »Unter der Meinungsführerschaft des Abtes von Clairvaux wird jeder mundtot gemacht, der es wagt, von dem abzuweichen, was Bernhard und seine Gesinnungsgenossen für die wahre Lehre halten.«
Rainald, dem man anmerkte, dass er dem Met schon sehr reichlich zugesprochen hatte, stand leicht schwankend auf. »Als Ritter habe ich schon manche Schlacht geschlagen und manchen Gegner niedergestreckt. Hass, Missgunst und Machtkalkül können die Menschen zu schlimmen Taten verleiten, doch ich habe immer gespürt, dass die Liebe durch nichts völlig ausgelöscht werden kann. Immer wieder entdecken wir sie neu in unseren Herzen. Und das verdanken wir Gott, unserem Herrn, der sie dort hineingelegt hat.« Er ging zu Gilbert, umarmte ihn und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. »Meister, Ihr seid ein Mann nach meinem Geschmack! Einen wahrhaft frommen Mann wie Euch möchte man sich auf dem Papststuhl wünschen, dann würde sich die Welt gewiss zum Besseren verändern!«
Gilbert sagte nichts, sondern senkte beschämt den Blick. Anselm stand auf. »Ich fürchte ein Mensch, der so reinen Herzens ist wie Gilbert von Nogent, würde in diesem Amt nicht glücklich werden.«
»Mag sein, werter Anselm«, sagte Rainald. »Aber vielleicht liegt gerade darin die Tragik des Menschengeschlechts: Jene, die man sich in höchsten Ämtern wünschen würde, gelangen nie dorthin, und so bleibt stets alles beim Alten. Andererseits bin ich froh, dass die Umstände Euch in unser Land geführt haben. Solange ich Vogt auf der Wolkenburg bin, werdet Ihr hier immer herzlich willkommen sein.«
Gilbert verneigte sich, dankte Rainald für seine Gastfreundschaft und lud ihn und seine Frau zu einem Gegenbesuch nach Neuwerth ein. Als Konrad hörte, dass Brigid also wohl demnächst das Kloster besuchen würde, spürte er eine
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