Der Mörder mit dem grünen Daumen: Ein Kriminalroman mit vielen Gartentipps
sahen
gewunden, geneigt oder gar windgepeitscht aus. Es gab Kaskaden- und
Besenformen. Und in einigen Fällen setzten sich die Stämme
in Miniaturlandschaften mit kleinen Steinchen als Felsimitationen
oder ähnlichem fort. „Fehlt nur noch die
Modelleisenbahn“, dachte Tom. Mit ihren dicken, knorrigen
Stämmen und Ästen sahen die Bäumchen niedlich und
empfindlich, zugleich aber auch alt und würdevoll aus.
„ Sowas haben Sie
wohl noch nie gesehen.“ Burenthal schien die Reaktion seines
Besuchers zu genießen.
„ Nicht in echt.“
„‚ Bonsai’
ist ein japanischer Begriff und heißt einfach nur ‚Baum
im Topf’. Na ja, ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn
Baum und Topf sollen eine harmonische Einheit sein und im Kleinen
ein Stück Natur nachbilden. Da wir von einem künstlerischen
Werk sprechen, ist eine gewisse Abstraktion allerdings zulässig.“
„ Sie meinen, ein
Bonsai ist sowas wie ein Modellbausatz?“
Burenthal überlegte.
„Irgendwie schon. Viel komplexer freilich, weil das ‚Material’
nicht aus Kunststoff besteht, sondern aus einem Lebewesen. Daher ist
der ‚Modellbau’ auch niemals ganz abgeschlossen. Bonsais
müssen immer wieder ‚gewartet’ werden.“
„ Wie alt sind
die hier denn?“
„ Oh, da gibt es
sehr große Unterschiede. Theoretisch kann man sich einen
Bonsai an einem Nachmittag zurechtschneiden. Manche Komponenten wie
Rindenstruktur, Stamm- und Zweigform oder die Bildung feiner Ästchen
brauchen jedoch Zeit, je mehr, desto besser.“
„ Und es geht
nicht nur mit einer bestimmten Baumart?“
„ Keineswegs. Es
empfiehlt sich lediglich, einheimische Bäume zu bearbeiten,
weil die bereits an unser Klima angepasst sind. Es braucht gar keine
Importe.“
„ Und die Bonsais
kommen ursprünglich aus Japan?“
„ Nein, aus dem
alten China. Das früheste Zeugnis von Bonsais –
chinesisch ‚Pun-sai’ ausgesprochen, obwohl die
Schriftzeichen die gleichen sind wie im Japanischen – datiert
schätzungsweise aus dem Jahre 200 vor Christus. Nach Japan
kamen die Bäumchen erst im Mittelalter durch eine chinesische
Invasion. Damals waren sie ein Luxusgut, das sich nur Adlige und
hohe Beamte leisten konnten.“
„ Was fanden die
denn so toll daran?“
„ Nun, man schuf
Bonsais aus knorrigen, verkrüppelten Bäumen, die in den
Bergen gewachsen waren. Ihre Zähigkeit wurde auf innere Kräfte
zurückgeführt, die auf den Besitzer übergehen
sollten.“
Tom machte ein
skeptisches Gesicht.
„ Wie dem auch
sei“, fuhr Burenthal fort, „nach dem Zweiten Weltkrieg
brachten amerikanische und britische Besatzungstruppen Bonsais aus
Ostasien in den Westen. Heutzutage werden jährlich
hunderttausende zu hohen Preisen importiert, selbst wenn sie das
Klima gar nicht vertragen.“
Tom trat näher an
eines der Bäumchen heran.
„ Nicht
anfassen“, schreckte Burenthal auf. „Sie sind sehr
verletzlich.“
„ Keine Angst.
Ich bin vorsichtig. Fürchten Sie denn nicht, dass Ihnen jemand
Ihre Schätze stiehlt?“
„ Nein.“ In
Burenthals Stimme schwang auf einmal Misstrauen mit. „Gewöhnliche
Kriminelle dürften vom Wert der Bonsais nichts ahnen. Und außer
mir hat niemand einen Schlüssel zum Kalthaus. Zudem dürfte
es kaum möglich sein, die empfindlichen Bäumchen in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion unbeschädigt abzutransportieren und sie
dann auch noch unter der Hand zu verkaufen. Aber sie wollten mir
doch helfen. Da hinten möchte ich ein paar Bonsais anders
arrangieren. Für einen einzelnen sind sie zu schwer.“
Während Tom dem
Hobbygärtner unter die Arme griff, sah er durch ein Fenster des
Kalthauses, wie einer der Fabrycys – unmöglich zu sagen
welcher – in Richtung des Buschhackers ging, an dessen
regelmäßigen Lärm Tom sich bereits gewöhnt
hatte. Hatten die Zwillinge ihren Außenauftrag schon erledigt?
„ So, das war’s.“
Burenthal keuchte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Vielen Dank.“
„ Was sind das
eigentlich für Albino-Äste an den Bonsais?“
„ Die hellen
Äste?“
„ Ja.“
„ Man nennt sie
‚Jin’. Es sind tote, entrindete Zweige, wettergegerbt
und von der Sonne ausgebleicht. Da sie in der Natur vorkommen,
stellt man sie auch bei Bonsais künstlich her. Das kontrastiert
und verleiht ein ehrwürdiges Aussehen. Wird Rinde vom Stamm
gelöst – in echt geschieht das beispielsweise durch
Blitzschlag –, spricht man von ‚Shari’.“
Tom wunderte sich ein
wenig über sich selbst, dass er tatsächlich all
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