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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Geräusch erstarrte Violaine eine ganze Minute lang. Es schien ihr, als ob Maillard sie zu sich riefe, um ihr von seinen Höllenqualen zu berichten und sie vor dem Mann zu warnen, der ihr auflauerte. Sie wich planlos zurück, die weit aufgerissenen Augen starr auf den eisernen Block der Turbine gerichtet. Es war dies die einzige Sekunde ihres Lebens, in der sie unter dem Eindruck dieser klagenden Stimme so etwas wie Reue überkam. Angestrengt versuchte sie, unter dem Schatten der Gladiolen die Augen des Bildes wiederzufinden, die doch auch die ihren suchen mussten. Aber das Mondlicht fiel zu steil ein, das Bild war schwarz. Man erkannte undeutlich den Kopf eines Mannes, aber nicht seine Gesichtszüge. Sie war trotzdem sicher, dass er sie nun mit einem anderen Blick ansah als vorhin. Eine Sekunde lang, eine einzige, machte das Mitleid ihrer Trunkenheit Platz und hätte sie dabei fast aus der Fassung gebracht.
    Aber sie hatte wirklich zu viel getrunken. Ihr Körper wurde ihr zu schwer. Außerdem war sie viel zu stark von dem Willen getrieben, diesen vergänglichen Besitz für sich zu behalten, für den sie ihr Leben riskierte. Es schien ihr, als ob sich draußen im Wind Schritte näherten. Sie richtete sich wieder auf.
    Der Gegenstand, den sie soeben am Fuß des Grabmals abgelegt hatte, war im Mondlicht gut sichtbar.
    Es war ein in Weihnachtspapier verpackter Geschenkkarton, der still in vollem Glanz erstrahlte. Das goldene Seidenband, mit dem er verschnürt war, formte auf der Oberseite eine dicke, kunstvoll gebundene Schleife. So wie es aussah, konnte dieses Paket durchaus Begehrlichkeiten wecken und die Phantasie anregen.
    Der Köder war gut ausgelegt. Violaine entfernte sich rückwärts von dem Paket, mit dem Gewehr in der Hand. Langsam wandte sie sich der Treppe zu, die zu der Rollbrücke führte; sie kam ihr schwindelerregend hoch vor. Das Fehlen eines Geländers ließ sie erschauern. Es half nichts, sie musste sich dort oben postieren. Sie stieg die steilen Stufen auf allen vieren hoch und klammerte sich dabei von Zeit zu Zeit an den gusseisernen Rohren fest, die ursprünglich dafür gedacht waren, die Schutzkette aufzunehmen. Ihre Betrunkenheit, so schien es ihr zumindest, begann etwas nachzulassen, aber dafür wurde sie von einem Schwindel ergriffen, der ihr den Magen zuschnürte. Sie erreichte den Steg auf ihren Knien, in die sich die Eisenspäne, über die sie gerutscht war, tief eingedrückt hatten. Ihre Strümpfe waren zerfetzt, ihre Schuhe zerkratzt, und bei den Anstrengungen, die sie unternommen hatte, war ihr blauer Nagellack abgeblättert.
    Sie kauerte sich hinter die Trommel einer Seilwinde, um den Lauf ihres Gewehres darauf abzustützen. Dabei wurde sie von einem solchen Zittern gepackt, dass der stählerne Gewehrlauf ein bedrohliches Trommeln auf dem Gusseisen ertönen ließ.
    Dort oben, über ihr und um sie herum, wanden sich die verwickelten Kabel in Spiralen um die Querbalken der Transformatoren und formten ausgefallene Girlanden, an denen sich hier und dort große Spinnweben festgesetzt hatten, die sich sachte bewegten. An den Enden ihrer verrosteten Streben schaukelten die massiven grünen Glasisolatoren sanft im Luftzug, der durch die löchrigen Glaswände hereindrang, und funkelten dabei wie Kronleuchter im Mondlicht.
    Violaine lauschte der Stille hinter dem Kolben ihres Jagdgewehrs und vermied es ängstlich, ihren Blick auf die gähnende Leere zwölf Meter unter ihr zu richten. Sie bemühte sich, ihren Zielpunkt im Auge zu behalten, das Paket im Schatten der Gladiolen, an deren roter, immer noch erkennbarer Farbe sie sich gut orientieren konnte. Aber das Zittern, das sie befallen hatte, und der nicht zu unterdrückende Schluckauf, der manchmal ihr Zwerchfell hob, hinderten sie an der nötigen Konzentration. Das Vibrieren ihrer Hände übertrug sich auf den Lauf der Flinte.
    Plötzlich hörte sie die Tür quietschen, und er kam herein. Sie hatte so oft an ihn gedacht, jeden Tag, seitdem er sich angekündigt hatte, sie hatte sich ihn so oft in allen erdenklichen Erscheinungsformen vorgestellt, dass sie darauf gefasst war, es mit einem riesigen Feind zu tun zu haben. Und nun? Da kam eine lächerlich kleine Gestalt herein, die beim Aufstoßen der Eisentür des Kraftwerks ebenso viel Mühe gehabt hatte wie sie selbst und die sich nun in dem vom Mond beleuchteten Bezirk als Schattenriss abzeichnete.
    Der Mann ließ sich Zeit. Er machte Lärm. Offenbar waren es schwere Arbeitsstiefel, deren

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