Der Mörder mit der schönen Handschrift
sie den Kofferraumdeckel zu. Ein gewaltiger, dem Anlass völlig unangemessener Lärm folgte auf diesen Wutausbruch. Das nachlässig am Rand der Motorhaube abgestellte Paket war heruntergefallen und hatte dabei ein Dröhnen von sich gegeben, das an einen Gong erinnerte.
Der Lärm stieg in die Luft bis an die Baumgrenze der nördlichen Hänge. Von einem Fichtenwipfel flatterte ein Nachtvogel schwerfällig auf, flog vor dem Mond vorbei und schwebte einige Augenblicke über dem Wildbach und dem Sägewerk.
Violaine hatte den Kopf auf beide Hände gestützt. Dort unten im Chalet blieb die von Zimmer zu Zimmer umherirrende Silhouette vor einem Fensterkreuz stehen und bewegte sich nicht mehr.
Ohne zu überlegen, warf sich Violaine nach vorn, um ihr Eigentum aufzuheben, und fiel davor auf die Knie. Das Gewehr, dass sie ungeschickterweise über die Schulter gehängt hatte, schlug schwer hin und her, der Riemen schnitt ihr in die Sehnen. Sie blieb mehr als eine Minute lang auf den Knien und schlang die Arme um das widerspenstige Paket, das ihr so viel Sorgen machte. Mühsam, auf allen vieren, löste sie sich vom Boden, zuerst ein Knie, dann das andere. So leicht sie war, der Alkohol verdreifachte ihr Gewicht, da er ihre Reflexe lähmte.
Sie setzte sich in Bewegung: Ein Schritt, zwei Schritte, den Blick immer fest auf die Silhouette gerichtet. Der Mann dort musste sie auch sehen, wie sie im hellen Mondlicht daherkam, er musste sie ebenso beobachten. Ihn im Haus anzugreifen schien ihr illusorisch. Er würde sie irgendwo erwarten, in einem der zahlreichen Schlupfwinkel, an der Biegung eines Ganges, im Hohlraum unter einer Treppe, hinter einer Tür. Mit Ambroisine und Véronique war er schließlich auch fertig geworden, und die beiden waren nun wirklich nicht auf den Kopf gefallen, und noch dazu waren sie damals vollkommen nüchtern gewesen.
Und außerdem ist so ein Gewehr ja etwas Schönes, aber man muss es auch in Anschlag bringen können. Mein Gott, seit wie vielen Jahren hatte sie kein Gewehr mehr in der Hand gehabt? Überdies … Was immer sie anpeilte, es gab nie längere Zeit ein einheitliches Ziel ab, alles schien sich immer wieder zu verdoppeln. Dann sah sie zwei Männer, zwei Fenster, zwei Chalets. Es dauerte nicht lange, aber der Eindruck kehrte hartnäckig wieder.
Schlafwandlerisch, wie ein Automat, bewegte sich Violaine über den Platz auf das Kraftwerk zu, wobei die schaukelnde Waffe wie ein Zügel um ihren Hals hing. Ein Gedanke begann sich durch ihre euphorische Trunkenheit hindurch Bahn zu brechen: »Ihm eine Falle stellen …«, murmelte sie grimmig vor sich hin.
Sie war sich ganz sicher – und dieses Gefühl beherrschte ihre Panik –, dass er nicht von ihr ablassen würde, solange er ihr nicht die sperrige Last abgenommen hätte. Um ihr Leben zu retten, hätte sie natürlich nur das Paket dort auf den Boden zu stellen und zu fliehen brauchen. Aber dieser Gedanke kam ihr nicht einmal, der angeborene Urinstinkt der Melliflores erstickte ihn im Keim. Sie wollte diese Angelegenheit lieber mit dem Gewehr regeln.
Sie setzte ihren Weg fort, ohne noch einmal zum Chalet zurückzuschauen. Sie gab sich Mühe, geradeaus zu gehen, weil sie sich sagte, dass sie erst recht erledigt wäre, wenn er mitbekommen sollte, dass sie betrunken war. Aber das Kraftwerk dort unten schien ihr so weit entfernt wie die italienische Grenze. Die Erdaufschüttung war für sie eine mühsam zu durchquerende Wüste. Der Gedanke, dass der Eindringling aus dem Haus kommen könnte, um sie hier auf dem freien Platz abzufangen, wo sie niemals die Kraft aufbringen würde zu rennen, dieser Gedanke, der ihr plötzlich gekommen war, trieb sie mit verzweifeltem Schwung voran. Außer Atem ließ sie sich gegen die eisernen Verstrebungen der widerspenstigen Tür sinken. Sie stemmte sich gegen sie, öffnete sie und schloss sie hinter sich. Diese Anstrengung raubte ihr die letzten Kräfte.
Hoch über ihr heulte der Wind in den Querbalken der Halle. Durch das Methylenblau, mit dem man die Glaswände während des letzten Krieges abgedunkelt hatte, fiel das Licht des fast im Zenit stehenden Mondes senkrecht auf Maillards Grab und auf die roten Gladiolen, die es schmückten. Dort oben, hundert Meter über der Fabrik, musste sich die Lombarde in dem leeren Rohr verfangen haben, mit dem früher das Wasser auf die Laufblätter der Turbine geleitet wurde; sie spielte auf dem Rohr eine gedämpfte Klageweise.
Voller Verblüffung über dieses ungewöhnliche
Weitere Kostenlose Bücher