Der Mörder mit der schönen Handschrift
Geräusch auf dem Zementboden erklang. Er machte vor den Blumen Halt und blieb eine gute Minute davor stehen, um sie zu betrachten.
Violaine hatte sich entschlossen, auf ihn zu schießen, wenn er sich zu dem Paket herabbeugen würde, um es an sich zu nehmen. Dabei würde er als kauernder Block das beste Ziel abgeben. Das Mondlicht würde kaum ausreichen, um ihr ein genaues Zielen zu ermöglichen, aber das leuchtende Rot der Gladiolen würde ihr die Richtung angeben. Natürlich würde sie das Zittern, das sie beherrschte, an einem präzisen Schuss hindern, aber sie rechnete damit, dass die Streuung der Schrotpatrone ausreichen würde, ihren Gegner zu verletzen, und dass sie dann nur noch hinuntersteigen müsste, um ihm aus nächster Nähe den Rest zu geben.
Aber was machte er? Er bückte sich nicht. Er stand steif, wie in Habachtstellung, vor den Gladiolen. Violaine konnte sein Gesicht im Gegenlicht nicht sehen, aber seine ganze Haltung drückte tiefe Nachdenklichkeit aus. Nein, er bückte sich tatsächlich nicht. Er setzte sich wieder in Bewegung. Er schritt über den Boden der Fabrik, der mit Trümmern aller Art übersät war. Er dachte einige Sekunden nach und blieb still am Fuß der Eisentreppe stehen. Violaine hatte den Eindruck, als würde er die Treppe ängstlich hinaufsehen, bevor er dann begann, sie langsam, Stufe für Stufe, emporzusteigen.
Das tönende Geräusch seiner Schritte auf den Eisenstufen erweckte in dem Kraftwerk Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Es war der Schritt eines Arbeiters, eines Erdarbeiters. Die verwirrte Violaine folgte seinen Schritten durch das unberechenbare Halbdunkel, das ihn bald dick, bald spindeldürr erschienen ließ. Je näher er kam, desto stärker wurde ihre Angst. Sie wusste, dass sie ihn nur bis zu einem bestimmten Punkt herankommen lassen durfte, wenn sie ihn nicht verfehlen wollte, und doch konnte sie sich nicht dazu entschließen, den Abzug zu drücken.
Da blieb er plötzlich stehen. Er kniete nieder. Er verharrte, als wolle er sich verneigen, und brummte länger als eine Minute undeutlich etwas vor sich hin, genau zwischen zwei der senkrechten Stangen, die die Treppe links und rechts begrenzten. Dann stand er wieder auf. Er drehte sich um. Er stieg wieder hinunter. Violaine war wie versteinert und senkte den Lauf ihrer Waffe.
Sie war sich gerade bewusst geworden, dass sie die Gestalt immer nur doppelt gesehen hatte, die ganze Zeit hindurch, während der sie die Treppenstufen hinaufgestiegen war. Die Treppe selbst war ihr gigantisch vorgekommen, breit wie die eines Opernhauses.
Der Mann stieg wieder hinunter. Er erreichte die unterste Stufe, näherte sich dem Paket im Weihnachtspapier. Er streckte die Arme danach aus.
Violaine schoss. Sie schoss einfach drauflos, ohne sicher zu sein, ob sie vorher überhaupt gezielt hatte. Als Echo auf den Knall folgte ein Hagel von zersplitterndem Glas, das von der Türeinfassung herrührte. Ein Regen von verrosteten Eisenteilen prasselte um die Turbine herum nieder, auf die Erregerspule, auf das Blech der Transformatoren, und zerfetzte dabei die Gladiolen. Der Mann war nach vorn auf das Paket gefallen, er schien es mit seinem Körper zu bedecken.
Violaine rannte zur Treppe mit hoch erhobenem Gewehr. Der Schuss hatte die Trunkenheit in ihre Schranken verwiesen. Sie konnte es kaum erwarten, den Eindringling zu erledigen. Sie hatte keine Angst mehr. Sie rannte acht Stufen hinunter, unsicher auf ihren hohen Absätzen balancierend und noch ein wenig taumelnd unter den Nachwirkungen des Alkohols.
Bei der neunten verfing sie sich mit den Füßen in einem Hindernis und stürzte. Es blieben noch zehn Meter Leere unter ihr, in die sie schreiend hinuntertauchte. Das Eisengehäuse der Turbine, die ein Grabmal war, setzte der Parabel ihres Falls ein Ende. Das Kopfstück eines großen Bolzens bohrte sich tief in ihre Stirn. Sie stürzte mit verrenkten Gliedern zwischen den Gladiolenstrauß und das Porträt des Verstorbenen mit den undurchschaubaren Zügen.
Da stand der Mann wieder auf. Man brachte nicht in Erfahrung, man brachte nie in Erfahrung – denn auf dieser Erde sollte ihm keine Zeit mehr bleiben, sich wem auch immer anzuvertrauen –, ob er sich freiwillig der Gefahr ausgesetzt hatte oder ob er angesichts der vielen leeren Flaschen, die er im Chalet bemerkt hatte, ganz sicher war, dass Violaine ihn verfehlen würde. Soweit man später den Charakter des Mörders beurteilen konnte, scheint es wohl, dass er in diesem Fall
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