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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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sogar, aber die sind bequem geworden wie die Einsiedler.«
    Er stand schon an der Tür und fegte die Abfälle zusammen, um sie in eines der Feuer zu werfen. Laviolette war ihm nicht gefolgt, sondern sah sich das Innere des Chors an.
    In einem Winkel, einer Art Grotte, die man unter dem Dach eingerichtet hatte, fanden gerade mal dreißig Gemeindemitglieder Platz. Es wurde einem auch gleich klar, dass die Unterbringung der Besucher des Gottesdienstes nur eine Nebensache war. Der gesamte verfügbare Raum wurde vom Dachgebälk eingenommen, das dem Kielraum eines umgedrehten Schiffes ähnelte. Es schien, als habe man auf die sich nach oben verjüngenden Mauern, die am oberen Ende noch drei Meter breit waren, den Rumpf einer Art von Arche Noah gestülpt, mit roh behauenen Fugen und Zapfen und geometrisch gestalteten Rosetten, den Wahrzeichen der Alpentäler. Die riesigen schwarzen Balken hätten von einem Brand herstammen können, der sie verschmäht hatte. Das war es, was wirklich zählte, nicht der Platz für die Gläubigen, sondern diese vor fünfhundert Jahren grob zugehauenen Baumstämme, an denen sich noch die Spuren ungeschickter Beilhiebe ablesen ließen und die mit so viel Schweiß getränkt worden waren, dass Gott unmöglich die außerordentlichen Anstrengungen übersehen konnte, die seine Diener für ihn geleistet hatten.
    Durch das nach Westen gehende offene Rundfenster glitt ein Sonnenstrahl auf das Gebälk und beleuchtete die Spitze eines Balkens, der auf einem Kragstein aus Granit auflag. Auf dem rissigen Holz war ein eingraviertes Wort zu lesen: Faites, las Laviolette.
    Der Priester war mit Schaufel und Besen zurückgekommen.
    »Ein bisschen Putzen muss sein«, sagte er. »Die Kapelle wird nur einmal im Jahr benutzt, kurz vor Heiligabend, wenn wir Jesus darauf hinweisen müssen, dass wir unbedingt Schnee brauchen. Ohne Schnee keine Skisaison!«
    »Das leuchtet ein«, sagte Laviolette. »Sie sind der Pfarrer von Abriès, nicht wahr?«
    »Ja, und der einiger anderer, ebenso bedrohter Orte.«
    »Auf jeden Fall haben Sie da eine wunderschöne Kapelle, in der man am liebsten alleine beten würde.«
    »Aber bitte, wenn Ihnen danach ist …«
    Laviolette überlegte, ob er sich nicht vorstellen sollte, aber er hatte den Eindruck, dass der Pfarrer, der schon wieder mit seinen Feuern beschäftigt war, sich einen Teufel um seine Identität scherte.
    »Für ihn bin ich nur eine von vielen ungläubigen Seelen«, sagte er zu sich selbst.
    »Im nächsten Frühjahr«, sagte der Pfarrer, »wird das alles ringsumher eine einzige Symphonie von Gold sein: Jetzt ist alles kahl, und das Gras ist kurz, aber wenn der Winter vorbei ist, verwandelt sich das alles in ein Meer aus Schlüsselblumen und Narzissen. Sie wachsen sogar in den Ritzen zwischen den Schieferplatten auf dem Dach! Sie müssen unbedingt herkommen und sich das ansehen!«
    Er kehrte zu den Chorstühlen zurück, um weiterzuputzen, und diesmal folgte ihm Laviolette.
    »Sagen Sie mal … Ich habe vorhin eine Inschrift auf einem Balken gesehen, aber ich kann nur das erste Wort entziffern.«
    »Eine Inschrift?«
    Der Pfarrer schien erstaunt über diese Bemerkung, da er schon seit langem diesen alten, unregelmäßig angeordneten Buchstaben keine Beachtung mehr schenkte. »Richtig!«, sagte er, »sie geht über alle Balken hinweg rund um das Kirchenschiff. Man kann sie schwer erkennen, weil es so dunkel ist. Außerdem wird sie alle drei Wörter von einer symbolischen Kreuzigungsszene unterbrochen.«
    »Und wie lautet sie?«
    » Faites poids et mesures, car comme vous mesurez, il vous sera mesuré. Machet Gewichte und Maße, denn mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. «
    Unbewusst hatte der Pfarrer diese Worte des Evangeliums im Ton einer Predigt ausgesprochen, und seine Stimme hallte noch ein wenig an der Spitze des Gewölbes nach.
    Laviolette ließ sich in einen der Chorstühle fallen.
    »Eine schöne Inschrift«, sagte er, ohne auf seine Worte zu achten.
    »Eine schöne Inschrift und eine schöne Weisheit! Die gleiche Inschrift findet sich übrigens auch in der Dorfkirche. Viel Geduld und Zeit waren dazu nötig. Jeder Buchstabe ist vor dreihundert Jahren in der Dorfschmiede hergestellt worden (die Buchstaben liegen noch in der Sakristei). Später musste man sie dann wieder zum Glühen bringen und einen nach dem anderen in das Lärchenholz drücken, wie der Henker das Brandeisen in die Schulter der zum Tode Verurteilten.«
    »Ein schönes Bild!«,

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