Der Mörder mit der schönen Handschrift
gestützt beobachtete er Laviolettes Abfahrt.
Um ein Uhr morgens kam Laviolette zur Villa Popocatepetl zurück; sein endlos langer Schal schleifte auf dem Boden. Er parkte den schwedischen Wagen unter einer Zeder. Als er die Autotür zumachte, fühlte er sich plötzlich beobachtet. Er drehte sich um. Die ausgeschalteten Scheinwerfer seiner apfelgrünen Vedette waren vorwurfsvoll auf ihn gerichtet, wie der Blick einer Ehefrau, die ihren Gatten dabei überrascht, wie er von einer Geliebten zurückkommt.
»Nun komm schon!«, brummte er, als er im Vorbeigehen die Motorhaube streichelte. »Spiel nicht die Beleidigte! Wir sind eben beide alt. Es wird Zeit, sich damit abzufinden.«
Er trat durch die immer noch angelehnte Tür ein und sehnte sich nach seiner gemütlichen Höhle. Doch da hatte er die Rechnung ohne die Katzen gemacht. Sie kamen aus allen Richtungen angerannt, einige sprangen die große Treppe hinunter, andere tauchten mit gesträubten Haaren aus dem Keller auf, die Übrigen kamen, teils schmeichlerisch, teils verbittert, hinter ihm aus dem Park hereingeschlichen. Sie umringten und bedrängten ihn, bildeten eine Kette, die direkt in die Küche führte, und miauten dabei in panischer Aufregung.
Sie kamen, um ihm zu erzählen, dass die Chabassut schon wieder vergessen habe, sie zu füttern, dass sie seit zwei Tagen nichts gefressen hätten, dass sie bald sterben müssten. Dieser Streich verfing jedes Mal bei Laviolette. Da konnte die Chabassut in noch so großen Buchstaben auf die Merktafel schreiben: »Die Katzen haben wie üblich zur gewohnten Zeit gefressen«, Laviolette drehte dann die Tafel gegen die Wand und machte sich mit dem Dosenöffner an die Konservendosen aus der Speisekammer. Das blieb ihm auch in dieser Nacht nicht erspart.
Danach konnte er sich endlich in seinen Sessel vor dem erloschenen Kamin fallen lassen und sich etwas Starkes einschenken. Die Chabassut hatte die Post wie immer auf dem niedrigen Wohnzimmertisch abgelegt. Laviolette schob sie mit einem Finger lässig auseinander. Er erwartete nie Briefe, deren Umschläge man ungeduldig aufreißt. Die viel versprechenden Werbebotschaften vom Typ: Bitte sofort öffnen. Sie haben gewonnen hatten bis morgen Zeit. Dann würden sie ungelesen im Feuer landen. Der Rest … Laviolette warf einen unbestimmten Blick auf zwei Zeitungen, die noch in der Banderole mit der Anschrift steckten, und nahm sie in die Hand. Darunter lag ein stabiler Umschlag aus braunem Packpapier, dessen Kopfleiste nur einen schlichten Firmennamen enthielt: Oberthur, Rennes. Laviolette stürzte sich auf den Brief und riss ihn auf. Ein ganzer Stapel Fotos fiel heraus und verstreute sich auf dem Teppich, sowie ein kurzer Brief mit folgendem Wortlaut:
Sehr geehrter Herr,
in Beantwortung Ihrer geschätzten Anfrage, die nicht wenige mühsame Nachforschungen in unseren Archiven erforderlich machte, haben wir das Vergnügen, Ihnen beiliegend alle Fotos zu schicken, die als Vorlage für die Motive des calendrier des postes aus dem Jahre 1912 gedient haben.
Natürlich können wir keine Originale verschicken, aber wir hoffen, dass Sie anhand dieser farbigen und wahrheitsgetreuen Nachbildungen in Originalgröße Ihre eigenen Nachforschungen erfolgreich weiterfuhren können werden.
In Erwartung einer baldigen Begleichung der unten aufgeführten Unkosten verbleiben wir, usw.
Laviolette stürzte sich auf die großen Fotos, die sich über den Fußboden verteilt hatten. Eines davon stach ihm sofort ins Auge. Er sprang auf. Er rannte förmlich zu dem mit den verschiedensten Dingen überhäuften Tisch, den er dreist seinen Schreibtisch nannte. Brummend, schimpfend und stöhnend suchte er einige Zeit herum. Dann zog er schließlich den calendrier des postes aus dem wüsten Haufen hervor, den er damals in dem verfallenen Bauernhof der Melliflores von der Öffnung für das Ofenrohr weggerissen hatte. Er hielt ihn unter die Lampe. Donnerwetter! Das also war es! Auf dem tadellosen Farbfoto war das Motiv genau zu sehen, das auf dem verrußten Pappkarton nur undeutlich zu erkennen war. Er konnte sich nicht satt daran sehen.
Zwar war er sich über die Identität des Mörders der drei Erbinnen der Familie Melliflore immer noch nicht im Klaren, aber dafür wusste er nun, warum sie umgebracht worden waren. Zumindest glaubte er es zu wissen.
14
LAVIOLETTE war durch das festlich geschmückte Digne gebummelt. Hübsche Frauen hatten ihn angerempelt, die so mit Geschenken überladen waren, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher